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510 Psychische Studien. XLII. Jahrg. 11. Heft. (November 1915).
P h. : Also dasselbe wie die platonische ävdfivrjötc ?
O. : Mir will es allerdings scheinen, daß Plato hier das
tiefste Wort ausgesprochen hat, das ein Mensch überhaupt von
der Welt sprechen kann, daß also jenes religiöse Gefühl auf nichts
weiter beruht als auf dunklen Erinnerungen an Dinge, die wir einst
geschaut oder erfahren haben und vielleicht nach unserem irdischen
Leben wieder schauen werden.
T h. : Manche rechnen übrigens auch das Naturgefühl des
Menschen hierher, da ihnen jene ästhetische Erklärung allein un-
zureichend erscheint.
O. : Vielleicht ist das richtig und wir könnten so noch
besser den Zauber verstehen, der uns immer wieder zur Natur hinzieht
, daher auch vielleicht jene religiösen Stimmungen, die in uns
aufsteigen, wenn wir von einem Berge hinabschauen8) auf die
untergehende Sonne, oder wenn im Herbste das Brausen des
Novembersturmes unerklärliche und ahnungsvolle Gefühle in uns
wachrufen. Es sind vielleicht Erinnerungen in uns an vergangene
Zeiten, an eine uralte Verwandtschaft des Menschen mit der
Natur, wie manche sprechen, von der uns nur diese Gefühle geblieben
sind. Sind wir nun damit am Ende angelangt, so daß wir
uns jener logischen Vollzähligkeit rühmen könnten, der wir früher
einen Platz in dem religiösen Gefühlsleben eingeräumt haben?
T h. : Ich meine, daß wir auch die Mystik bei unserer Betrachtung
nicht vergessen dürfen, da wir doch lange Zeit über
jenes religiöse Grundgefühl gehandelt haben, das wir das Gefühl
der Zasammengehörigkeit mit einer höheren Welt nannten. Denn
auch der Mystik müssen wir doch unter den religiösen Gefühlen
einen hervorragenden Platz zuweisen, wenn sie auch scheinbar
zu manchen Zeiten ganz in den Hintergrund zu treten scheint.
Für immer aber kann sie keine Religion ganz entbehren, sondern
derjenige, der sie abzutöten sucht, tötet auch die Religion selbst
oder wenigstens die Form, in der sie augenblicklich in einem bestimmten
Kulturkreise auftritt.
O. : Sollen wir nun vor ihr stehen bleiben, da sie uns ins
8) Gerade dieses Beispiel beweist, daß die Stimmungen, die
wir beim Anblick der Natur empfinden, nicbt allein durch Einbildung
erklärt werden können. (Vgl. Davis, „Der Tod im Lichte des Spiritualismus
und der harmonischen Philosophie", S. 17: „In jeglicher
Bezie ung sind wir dem großen Universum, das uns umgiebt, ver*
wandt! Daher jene geheimnisvolle Sympathie, die wir an einsamen
Plätzen empfinden; daher jene tiefe, ruhige, besänftigende Wirkung,
die wir beim Anblicken grüner Felder und majestätischer Baumgipfel
empfinden. Daher jene Freude beim Anschauen der Gebirge
und Gestirne. Daher jener werte Trost in Sorge und Verzweiflung,
der uns in der Stimme rauschender mächtiger Gewässer naht, und
daher vor allem auch jenes Gefühl der Oberherrschaft über den
Tod, das in solchen Augenblicken der Anschauung mit eminenter
Gewalt durch unser inneres Wesen flutetu!)
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