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512 Psychische Studien XLU. Jahrg. 11. Heft. (November 1915.)
von Frieden und Brüderlichkeit und gutem Willen festhalten, erwidert
er, daß guter Wille auf der negativen Seite nicht genug
sei! Sir Oliver kommt dann auf die Änderungen in der Industrie
und auf die sozialen Reformen zu sprechen, die nach dem Kriege
gemacht werden sollten. Er erinnert an die gräßlichen Zustände
von Leben und Tod, die wir ruhig ertragen, als unvermeidlich.
Der Krieg, behauptet er, hat uns klar gezeigt, daß die Gesellschaft
stärker organisert werden muß, um gegen eine Anzahl von
heilbaren Bosheiten vorgehen zu können. Der „Light" setzt noch
dazu, daß aktive Einmischung zu geschehen hat, wenn ein Feind
einen Fre.nd mter die Füße zu treten versucht. In dieser Lage
sind wir jetzt und, Gott sei Dank, wir haben unsere Schuldigkeit
getan. — Ich glaube kaum, daß ganz England dieser Ansicht
ist; denn wie ich da und dort lese, bedauern viele Engländer
die Beteiligung an diesem Kriege, am meisten in den Kreisen
wahrhaft vornehmer Bildung. W. Reichel.
Nachwort der Red. Wenn man obigen Phrasenschwall
liest, muß man sich erstaunt fragen, wie ist es möglich, daß
einer der hervorragendsten Hochschullehrer eines erstklassigen
„Kulturstaates", eine anerkannte Leuchte der Wissenschaft über
die gegenwärtige politische Lage und speziell über die Beteiligung
Englands am Weltkrieg mit so völliger Verkennung aller objektiv
vorliegenden Tatsachen und mit solcher Verblendung über die
wahren Ursachen des Weltkriegs so ungerecht und schief urteilt,
daß er der „deutschen [!] Lehre von unverantwortlicher Macht
und der von einer höheren Macht unkontrollierten Obergewalt des
Staates" die Schuld an der grauenhaften Verwüstung aller höheren
Kultur und an dem entsetzlichen Elend der jetzigen Menschheit
beimißt. Ein von Vorurteilen sonst freier, in der wissenschaftlichen
Welt so hochstehender Mann hätte doch v/ahrhaftig die
moralische Pflicht, sich über die wirklichen Vorgänge und ihre
Ursachen etwas genauere Kenntnis zu verschaffen, was nicht schwer
ist, wenn man nur die in den Brüsseler Archiven vorgefundenen
und von der deutschen Regier ng jüngst veröffentlichten Berichte
der belgischen Diplomaten über die gerade von England angestiftete
, seit Jahren betriebene systematische Kriegshetze studiert
und mit dem englischen Kriegsvorwand der (s. Z Deutschland
aufgenötigten) Verletzung der belgischen Neutralität, die tatsächlich
längst von der Gegenseite untergraben war, das jetzige br tale,
wenn aueh durc'i heuchlerische Redensarten beschönigte Vorgehen
der alliierten Engländer und Franzosen gegen das neutrale Griechenland
vergleicht, dessen König sich glücklicherweise als Mann und
Charakter bewäirt hat. Und wenn es irgend einen Monarchen
in Europa giebt, der sich einer höheren Macht ^egevjber im
tiefsten Herzen verantwortlich fühlt, so ist das «icnerlich der deutsche
Kaiser mit seinem demütig aufrichtigen Gottvertrauen im Kampf
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