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Freudeuberg: Streiflichter auf japanischen Kultus. 531
Westen erstanden ein kostbares Bild für 100000 Yen (200000 M.)
und schenkten es dem Kloster wieder zurück, unter dem Beding,
daß fortan verständiger gewirlschaflet werde. —
Unweit gelegen ist der Sangusangendotempel, eine unglaublich
lange Halle mit 1001 überlebensgroßen, vergoldeten
Kwannonstatuen, eine wie die andere, in elffacher Reihe übereinander
gestellt. So hübsch wie auch der dieser Anlage zugrunde
liegende Gedanke ist, so wirkt dieses Übermaß in der Darstellung
desselben doch plump und geschmacklos.
Ungleich schöner als die Lage dieser innerhalb des ebenen
Teils der Stadt gelegenen Tempelanlagen ist die der zahlreichen
Tempel, welche an dem und auf dem das linke Ufer des Tales
begrenzenden waldigen Bergzug erbaut sind. Da ist vor allem
der Kiyomizudera zu erwähnen, ein Kwannontempel, der zum
Teil und mit einei angeschlossenen Terrasse völlig frei auf riesigen
Holzpfählen über der Tiefe schwebt. Welch ein Bild bietet sich
hier beim Anblick des Talkessels und der mächtigen Stadt
(400 000 Einwohner), zumal abends, wenn diese im Licht der
verschwenderischen Beleuchtung erstrahlt. Hier finden wir außerhalb
des Tempels unseren verehrten Heilgott wieder; hier hängen
die Ringe, Stangen und schweren Eisenschuhe, in denen Büßer
ihren Rundlauf um den Tempel bewerkstelligen; hier gießt ein
kunstvoll gearbeiteter Bronzedrache segenspendendes Wasser in
ein schmuckes Bronzebecken. Doch noch wirksameres Wasser
spendet der berühmte Dreistrahl im angrenzenden einzig schönen
Waldpark des Tempels. Es ist das eine Felsenquelle, welche in
dreifachem Strahl ihr Wasser in ein weites flaches Steinbecken
ergießt. Mit Schwimmhosen die Männer, mit Mänteln die Frauen
bekleidet, treten unausgesetzt Andächtige in diesen Teich und
lassen den Strahl auf ihren Nacken fallen. Nebenan stehen
Buden mit Erfrischungen und Haarkünstlerinnen, welche die
nassen Haare der aus der Gnadenquelle heraustretenden Damen
trocknen und wieder in Ordnung bringen.
Ein kurzes Wort über die tempelbesuchenden Pilger sei hier
eingeschoben. Gegenwärtig zieht über eine halbe Million Pilger
durch Japan, welche das Gelübde zur großen Wallfahrt, d. h. zum
Besuch der 1000 größten Heiligtümer Japans abgelegt haben. Mit
einem Kittel bekleidet, mit breitem Strohhut, auf dem Rücken die
Schlafmatte, den Reisbecher an der Seite, durchziehen sie so
6—7 Jahre lang — so lange dauert gewöhnlich die Wallfahrt —
das Land. Auch Frauen und Kinder sieht man darunter. Sie
betteln nicht, aber wo sie Rast machen, ist es Pflicht der Frommen,
ihren Reisnapf zu füllen. Für die durchgängig blutarme Landbevölkerung
ist dies eine große Steuer, die sie aber einmal der
Sitte entsprechend und sodann, um selbst ein gottgefälliges Werk
zu vollbringen, gerne auf sich nimmt. Auf Wegen und Stegen be-
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