http://dl.ub.uni-freiburg.de/diglit/psychische_studien1915/0545
Freudenberg: Streiflichter auf japanischen Kultus
533
Der Chion-in-tempel besitzt die wirklich größte Glocke Japans,
7 400 kg wiegend, im Jahre 1633 gegossen.
Tiefer in den Bergen, in einem waldgrünen Tal, liegt die
Leichenverbrennungsstätte. Zu dem vornan liegenden Tempel führt
ein mitLotosornamenten geschmücktes Tor. Vor dem Altartisch steht
ein Stuhl für den Priester und auf dem Altar selbst eine Art Pinien-
Rapfen mit einer Flamme auf der Spitze von Porzellan, links davon
Räuchergerät, rechts eine Kanne mit einer Bockfigur als Deckel.
Hinter dem Tempel liegen die Verbrennungsöfen, 24 an der Zahl.
Zwei davon sah ich in Tätigkeit. Die Heizung geschieht durch
Holz. Die Verbrennung ist offenbar eine unvollkommene. Nach
etwa einer Stunde suchen die Angehörigen Knochenteile, speziell
das Zungenbein und Halsknöchelchen aus der Asche heraus und
bringen diese zunächst nach Hause, wo sie im Buddhaschrein eingestellt
und verehrt werden. Später bringt man sie in einer Urne
zu dem mehr im Tale gelegenen Nishi-Otanitempel, zu dem eine
mächtige Steinbrücke über einen schönen Lotosteich hinüberführt.
Manche lassen auch im Garten dieses Tempels ihre Asche begraben
, um in demselben Boden zu ruhen, wie die Asche des buddhistischen
Heiligen Shinran Shonin, des Stifters der weitverbreiteten
und höchstangesehenen Hongwanjisekte. Das Grab
dieses Mannes, d. h. die Stelle, an welcher ein anderer Teil seiner
Asche begraben liegt, befindet sich beim Tempel Highashi Otani
und ist durch ein mächtiges Steindenkmal ausgezeichnet. Zu
diesem führt ein Tor, an welchem sich von den Japanern vielbewunderte
, seltsame Schnitzereien befinden.
Die ganze Leichenfeier liegt in der Hand der buddhistischen
Priester, welche die Leiche vor der Verbrennung einsegnen. Offi-
zianten und Leidtragende erscheinen in Weiß, der Trauerfarbe
Japans und Chinas. Erstmalig im Jahre 1912 sah man bei der
Leichenfeier des Kaisers Schwarz; auch das Militär trug damals
nach europäischer Sitte schwarze Trauerflore um den Arm. Der
Tod eines Angehörigen macht die Familie für 5 Wochen unrein,
und so lange darf vor dem strenggeschlossenen Shintoschrein des
Hauses nicht gebetet werden.
Eine große Unsitte sind die Leicbenschmäuse und die Verpflichtung
, an alle Kondolenten Geschenke auszuteilen. Wenig begüterte
Familien werden dadurch zur Abgabe ihrer Ersparnisse
oder gar zur Aufnahme von Schulden genötigt. Ich habe betrübende
Fälle dieser Art kennen gelernt.
Während man vor den großen Tempeln mächtige Wände
von aufgeschichteten Reissäcken sieht, alles fromme Opfergaben,
fehlen vor keinem der unzähligen Schreine Schälchen mit Reis
oder Früchten aller Art als Spenden. Auch ist kein Tempelchen
so abseits gelegen, so tief im Walde versteckt, daß nicht ein Andächtiger
den Weg zu ihm fände und sein Kerzchen davor ent-
http://dl.ub.uni-freiburg.de/diglit/psychische_studien1915/0545