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i£aindl: Freie Gedanken eines russischen Dogmatikers. 541
Historiker der englischen Reformation und der allerhervor-
ragendste Vertreter der englischen kirchlichen und politischen
Nationalprinzipien spricht in dem ruhigen Tone des Geschichtsschreibers
, liebt Dialektik, und es gibt kein Verbrechen, das er
durch seine Dialektik, zugunsten seiner Lieblingsidee nicht freispräche
, keine Heuchelei, die er nicht zum Recht machte, sobald
er das Recht der Reform und ihrer Hauptagitatoren beweist. Er
steht unbeweglich, fanatisch auf dem Fundamente der anglikanischen
Rechtgläubigkeit und hält für dessen Eckstein — das
Bewußtsein der gesellschaftlichen Pflicht, die Ergebenheit gegen
die Staatsidee, das Gesetz und die erbarmungslose Verfolgung
des Lasters, des Verbrechens, des Müßigganges und alles dessen,
was Verrat gegen die Pflicht heißt. — Dies ist die Religion des
englischen Volkes in ihren besten und festesten Vertretern.--
Wo bleiben denn in der Welt und in der Kirche die Zöllner und die
Sünderinnen, die, welche nach dem Worte des Erlösers nicht
selten im Gottesreiche den Kirchlich-Gerechten vorangehen?--
Zu solchen Begriffen der Religion kann der Gedanke eines überzeugten
anglikanischen Protestanten gelangen. Sie enthalten in
der Tat eine direkte Entstellung des evangelischen Wortes; es ist
als ob sie sagten: Selig sind die, die in der Tat fest und stark
sind; ihnen gehört das Reich. Ja, sagen wir, das irdische Reich,
aber nicht das Himmelreich.---Welch furchtbare, welch verwegene
Doktrin!"--
Im Kirchentume hat die christliche Lehre längst aufgehört»
das praktische Leben nach ihren Idealen zu gestalten, im Gegenteil
hat sie sich bereit finden lassen, ihre Ideale nach den Anforderungen
des praktischen Lebens zu modifizieren, und der
Wert einer „Religion" wird heute nach dem Grade bemessen, in
dem sie sich jenem anzupassen versteht, und nach dem Erfolge,
den sie in der Förderung seiner utilitarischen Ziele aufzuweisen
hat.
Anstatt sich auf die Alternative zwischen Glauben und
Werke einzulassen, welche einen Gegenstand des Streites zwischen
der katholischen und der protestantischen Theologie bildet, hätte
Pobedonoszew meines Erachtens besser getan, sich auf den
Apostel Paulus zu berufen, welcher mit den Worten: „Und
wenn ich jede Erkenntnis habe und allen Glauben, und habe die
Liebe nicht, so bin ich ein nichts. Und wenn ich all mein Besitztum
den Armen schenke und meinen Leib dahingehe und habe
die Liebe nicht, so kann mir nichts frommen," die Liebe über
Glauben und Werke stellt.
Pobedonoszew scheut sich, wie es scheint, mit Rücksicht auf
n^p vom Darwinismus durchsetzten Zeitgeist sich auf diesen, den
Kern des Christentums in sich fassenden, Ausspruch des Apostels
zu berufen, weil dieser mit dem Evangelium der Macht, dem
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