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58 Psychische Studien. XLII. Jahrg. 12. Heft. (Dezember 1915.)
wieder durch die Gunst oder Ungunst der Entwicklungsbedingungen
bestimmt wird, so ist es ohne weiteres klar, daß in
einer Zeit, wo der Verstand das Zepter führt und die Entwicklungsbedingungen
schafft, der wahre Glaube nicht gedeihen
kann. — Inbezug auf diesen, im Geist des Kosmos wurzelnden
Glauben kann man mit dem Dichter sagen:
„Der Glaube ist der höchste Segen,
Und besser ist's, den müden Staub
In's ungeweihte Grab zu legen,
Als daß der Geist des Todes Raub.'*
(Lenau's Savonarola.)
„Ein Herz hat Ruh', das nie geglaubt,
Und glücklich, wen die böse Stunde,
Die solchen Glaubens ihn beraubt,
Gleich drauf verscharrt im Grabesgrunde."
(Lenau's Faust.)
Im Hinblick auf die Menschheit aber, die in unseliger Verblendung
ihren beschränkten Verstand höher schätzt als die ihr
vom Allgeist anererbte Wahrheit, wird man mit demselben Dichter
fragen müssen:
„Wer führt sie durch die Erdendämmerungen?
Wohin wird sich das Menschenvolk noch wenden?
Wie wird auf Erden noch ihr Schicksal enden?"
Und in Anbetracht der Unmöglichkeit, daß der Verstand
aus dieser grandiosen Verirrung selbst einen Ausweg findet, wird
man dem Dichter aus voller Überzeugung beistimmen müssen,
wenn er sagt:
*
„Es treibt sie fort, trotz ihrer Seele Bängnis,
Stets tiefer in die Sünde, ihr Verhängnis —,
Weil so umnachtetem Gemüt,
Kein Hoffen mehr auf Erden blüht."
•(Lenau's Faust.)
Zu den radikalen, d. h. im kosmischen Geiste des Individuums
wurzelnden, unabweisbaren Verlangen, gehört nach Elmer
Gates auch jenes nach Glück und einer ewigen Dauer des
letzteren, was den Wunsch nach Unsterblichkeit in sich schließt.
Dieses Verlangen wird aber von dem Verdachte, seinen Ursprung
im Egoismus der äußeren Natur zu haben, nie völlig gereinigt
werden können.
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