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558 Psychische Studien. XLI1. Jahrg. 12. Heft. (Dezember 1915.)
hinter ihnen steht und damit wir einsehen lernen, daß es noch
tieferer Erkenntnis bedarf wie bisher, um das in uns wirklich zu
finden, was das eigentliche Wesen des Menschen und der Religion
ausmacht.
Propheten des nahen Weltgerichts.
Von Hochschulprofessor Dr. Ludwig, Freising.*)
Politisch oder sozial erregte Zeiten sind von jeher ein
günstiger Nährboden für religiöse Schwärmereien gewesen. Von
der religiös-kommunistischen Bewegung der Donatisten in Nordafrika
zur Zeit des hl. Augustinus an bis zum mittelalterlichen
Sektenwesen des 11. u. 12. Jahrhunderts, wo die Prophezeiungen
vom Kommen eines neuen „echt christlichen" Zeitalters die Geister
in gewaltige Aufregung versetzt hatten, und von den religiössozialen
Bauernaufständen zu Beginn des 16. Jahrhunderts bis zu
den schwärmerischen Sekten der Pöschlianer1) und Chiliasten2)
mit ihren religiös verbrämten kommunistischen Idealen zu Anfang
des 19. Jahrhunderts, immer zeigt der Verlauf der Welt- und
Kirchengeschichte die gleiche Erscheinung, daß tiefe politische
und soziale Erregungen apokalyptische Hoffnungen und Er-
Wartungen wecken. Es wäre demnach fast eine Abnormität, wenn
der jetzige furchtbare Weltkrieg nicht aufs neue so manche Geister
in der Überzeugung von der Nähe des Weltgerichts bestärken
würde. Dies ist denn auch geschehen. Der ehemalige katholische
Pfarrverweser in Gaildorf Otto Feuerstein, gegenwärtig in Degerloch
bei Stuttgart weilend, verbreitet ein Flugblatt3) unter der
alarmierenden Aufschrift: „Mit dem Weltkrieg hat das Weltgericht
begonnen!" Es kann nicht auffallen, daß die neue
Schwärmerei von Württemberg ausgeht, weil dort bei der starken
Neigung des Volkscharakters zum Mystizismus das protestantische
Sektenwesen stets auf zahlreiche Anhänger rechnen konnte. Aus
diesem Flugblatt geht aufs deutlichste hervor, daß man es wieder
wie zu Beginn des 19. Jahrhunderts mit einer religiös-kommunistischen
Bewegung zu tun hat. Freilich ist Feuerstein in seinen
Ideen nicht originell. Er entnimmt sein Programm in allen wesentlichen
Punkten den „Offenbarungen** eines österreichischen „Pro-
*) Entlehnt der „Literarischen Beilage zur „Augsburger Postzeitung
" Nr. 2<J vom 28. Oktober 15 mit Genehmigung des hoch-
würdigen Herrn Verfassers. — Vergl. unsere Anzeige in „Eingelaufene
Bücher etc." in diesem Heft. Die Flugschrift wurde ohne Vorwissen
des Schriftleiters auch unserer Monatsschrift beigelegt. — Red.
*) Vrgl. meine Schrift: „Neue Untersuchungen über den Posch-
lianismus", Regensburg 1906.
2) Vrgl. meine Schrift: „Die chiliastische Bewegung in Franken
und Hessen im ersten Drittel des 19. Jahrhunderts/ Regensburg 1918.
3) In 2500O Exemplaren gedruckt!
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