http://dl.ub.uni-freiburg.de/diglit/psychische_studien1915/0573
Ludwig: Propheten des nahen Weltgerichts
561
1000jährige Reich, dieser Lieblingstraum aller religiösen Schwärmer
von der Zeit des altkirchlichen Chiliasmus her bis auf Pöschl und
Proli») in seinen Bestand. In dem nun aufgerichteten Reich
Gottes herrscht dann der „moralische Kommunismus**, d. h. es
wird zwar noch Privateigentum geben, aber kein unbeschränktes,
die Obrigkeit wird es regulieren in Rücksicht auf das Gemeinwohl.
Das Wirtschaftsleben wird nicht, wie die Sozialdemokratie es sich
vorstellt, ein allgemeiner Fabrikbetrieb sein, wo keiner mehr frei
wäre, vielmehr werden die Menschen jetzt sich als Brüder und
Schwestern fühlen, die das, was sie nicht selbst für einen mäßigen
Lebensunterhalt brauchen, gern anderen zur Verfügung stellen, —
und soweit dies trotzdem die Einzelnen nicht freiwillig tun, wird
die Obrigkeit nachhelfen. Also trauen die Propheten doch nicht
so recht dem neuen moralischen Kommunismus! Der Verfasser
gesteht in rührender Offenheit, daß er noch in seiner Schrift
„Sozialdemokratie und Weltgericht** die Weissagungen von einer
Bekehrung der Juden am Ende der Zeiten wörtlich genommen, daß
er aber durch Lorbers Neuoffenbarungen belehrt sei, auch diese
Weissagungen seien allegorisch zu deuten. Sie beziehen sich auf
das Israel Gottes, d. h. die echten Nachfolger Christi. Die Juden
haben ihre Rolle als Nation für immer ausgespielt. Zum Schluß
kommt auch noch der Patriotismus zu seinem Recht; denn
Deutschland und Österreich, die relativ am wenigsten korrumpierten
Nationen, sind „Gottes Polizei" bei diesem ersten Akt des Weltgerichts
. Aber nur dann wird-Deutschland auf der Höhe bleiben,
wenn es seine künftige Machtstellung in der Welt nicht zu Übermut
und neuem Weltsinn mißbraucht. Sonst werden die weiteren,
noch bevorstehenden Katastrophen auch uns nicht verschonen. —
Dies der Inhalt der Flugschrift. Wenn nun die für die Zeit
„um 1918 herum*' prophezeite sichtbare Wiederkunft des Herrn,
die ohnehin nur wenigen Auserwählten zu teil wird, ausbleibt, so
darf man doch nicht auf eine Bekehrung und Belehrung der irregeleiteten
Schwärmer hoffen; denn es werden sich wie die Sektengeschichte
lehrt, neue „Offenbarungen** einstellen, die das Ausbleiben
des erwarteten zweiten Kommens des Herrn „erklären",
damit der Glaube nicht wanke und die Hoffnung nicht sinke. Die
Kirchengeschichte aber zeigt uns, daß eine volkstümlich massive
Auffassung des Christentums und insbesondere der geheimen
Offenbarung Johannis immer wieder, sobald die Gegenwartsverhältnisse
als besonders drückend empfunden werden, zu derartigen
chiliastischen Erwartungen geführt hat und führen wird. Es bewährt
sich auch hier die Maxime der Alten: „Historia vitae
magistra**.
*) Siehe meine oben zitierten Schriften (Fußnote 1 u. 2.)
http://dl.ub.uni-freiburg.de/diglit/psychische_studien1915/0573