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566 Psychische Studien. XLIL Jahrg. 12. Heft (Dezember 1915.)
Schlagen wir z. B. die Abhandlung auf, durch die
Schopenhauer in diesem Band vertreten ist, so finden wir
hier das Kapitel 41 des II. Bandes der „Welt als Wille und Vorstellung
**, Schopenhauers bekannte, 1844 zum ersten Male erschienene
Abhandlung: „Über den Tod und sein Verhältnis
zur Unzerstörbarkeit unseres Wesens
an sich**.
Gibt es — möchte ich fragen — heute, wo dem grausamen
Schnitter Tod eine so reiche Ernte zufällt, wie sie ihm seit Jahrhunderten
nicht mehr zuteil gev/orden ist, gibt e* da für uns eine
biennendere Frage, als diese hier?
Und wie beantwortet Schopenhauer diese Frage?
„Wie durch den Eintritt der Nacht die Welt verschwindet,
dabei jedoch keinen Augenblick zu sein aufhört, ebenso scheinbar
vergeht Mensch und Tier durch den Tod und ebenso ungestört
besteht dabei ihr wahres Wesen fort. Nun denke man sich jenen
Wechsel von Tod und Geburt in schnellen Vibrationen und man
hat die beharrliche Objektivation des Willens, die bleibenden
Ideen der Wesen vor sich, feststehend wie der Regenbogen auf
dem Wasserfall. Dies ist die zeitliche Unsterblichkeit. Infolge
derselben ist trotz Jahrtausenden des Todes und der Verwesung
noch nichts verloren gegangen, kein Atom der Materie, noch
weniger etwas von dem innern Wesen, welches sich als die Natur
darstellt. Demnach können wir jeden Augenblick wohlgemut ausrufen
: „Trotz Zeit, Tod und Verwesung sind wir noch alle zusammen
.** — Soweit Schopenhauer, dem nur zu wünschen gewesen
wäre, daß er noch die Ergebnisse der heutigen okkulten
Forschung erlebt hätte. Er hätte dann die obige Frage sehr viel
klarer und bestimmter beantworten können, als er sie hier beantwortet
hat. — Immerhin müssen wir anerkennen, daß er in
dieses Problem so tief eingedrungen ist, als dies ohne Anlehnung
an okkulte Forschung möglich ist, die sich ja erst heule allmählich
Geltung verschafft.
Sehr bemerkenswert ist auch der Aufsatz von Prof.
Wilhelm Dilthey über „Das metaphysische Bewußtsein**,
den wir in diesem Band vorfinden: „Nicht durch logische Folgerichtigkeit
gezwungen,** lesen wir dort, „nehmen wir einen höheren
Zusammenhang an, in den unser Leben und Sterben verwebt ist.
Es läßt sich zeigen, wohin diese logische Folgerichtigkeit führt,
wenn sie auf einen solchen Zusammenhang ausgedehnt wird.
Vielmehr entspringt aus der Tiefe der Selbstbesinnung, die das
Erleben der Hingabe, der freien Verneinung unserer Egoität vorfindet
und so unsere Freiheit vom Naturzusammenhang erweist,
das Bewußtsein, daß dieser Wille nicht bedingt sein kann durch
die Naturordnung, deren Gesetze sein Leben nicht entspricht, sondern
nur durch etwas, was dieselbe hinter sich zurückläßt.**
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