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2 Psychische Studien. XLIII. Jahrg. 1. Heft. (Januar 1916.)
Traurigkeit überkam ihn, wie er sie nie kannte, und heißes Weh
schnürte sein Herz. Durch seinen gewaltigen Körper lief ein
Beben und wie gebrochen sank er in die Bankecke und vergrub
seinen schweren Kopf in beiden Händen. Dem stämmigen, stolzen
Manne, der seit den Tagen seiner Kindheit nimmer wußte, was
Tränen sind, der selbst am Grabe seines Vaters, den er sehr geliebt
halte, nicht weinen konnte, trieb der Gedanke an sein nun
einsames Mütterchen mit der Gewalt des tiefsten Schmerzes ein
heißes Naß in die Augen. Daß sein Mütterchen für immer einsam
zurückbleiben würde, das wußte er. Seit diesem Morgen
wußte er's, und seit dem Augenblick, da er vorm Abfahren des
Zuges noch in letzter Minute aus dem Wagen stürzte und sein
zitterndes Mütterchen stürmisch in die Arme schloß und auf ihre
lieben, treuen Augen und ihre bleichen Lippen küßte. Da hatte
ein überwältigendes Gefühl den harten, verschlossenen Mann
weichmütig gemacht. Es war ein Abschied für immer, das wurde
ihm plötzlich klar.
Als Stockburger vor fünf Monaten als ungedienter Landstürmer
zur Infanterie ausgehoben ward und bald darauf in die
Kaserne einrückte, war er Feuer und Seele für den Gedanken,
Mithelfer zu werden, den Feind vom Vaterlande fern zu halten.
Die Unannehmlichkeiten der Ausbildung, des „Drills", trug der
Fünfunddreißigjährige willig und mit Humor. Bald war er einer
der besten Schützen seiner Kompagnie. Noch vor wenigen Tagen
freute er sich darauf, nun endlich ins Feld und vor den Feind zu
kommen. Wohl dachte er oft an sein Mütterchen, das nun für
lange Zeit allein bleiben mußte. Denn er, ihr einziger Sohn,
lebte, da er unverheiratet war, nur für sie, und sie für ihn. Obwohl
es ihm bei solchen Gedanken stets weich ums Herz wurde,
fand er immer Trost in der Hoffnung, glücklich wieder vom
Kampffelde zurückzukehren. Alle Kugeln würden ja nicht treffen.
Und träfe ihn dennoch eine, so würde er ja für das Vaterland
bluten und sterben, für das weite, große deutsche und das engere
schwäbische, und schließlich ebenso für sein Heimatstädtchen
Hintersteig.
Was würde werden, wenn der Feind ins Land käme? Welche
Zustände würden eintreten, wenn jeder nur für sein eigenes Wohl
und nicht für das der Schwächeren und Hilfsbedürftigen sorgte?
Nein, er war froh und dankbar, gesund und stark zu sein und
beitragen zu können zum Schutz seiner Heimat und seines eigenen
Heims und dadurch und vor allen Dingen seines geliebten
Mütterchens.
Aber daß der Abschied so schwer werden würde, hätte er
nicht gedacht. In all den drei Tagen Urlaub, die er vorm Abzug
ins Feld noch in der Heimat verbringen durfte, war er nichts
weniger als beunruhigt. Bis zuletzt verlor er seinen Humor nicht,
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