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Hänig: Okkultismus — Religion — Metaphysik,
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Organismus, wenn irgendein Glied, z. B. ein Finger erkrankt, der
Schmerz hiervon selbst im Unterleib sich fühlbar macht. So hat
also die Divination eine kosmologische Grundlage und ist
durchaus nichts Tadelnswertes. Aber sie ist auch anthropologisch
begründet. Die Fähigkeit einer Vorschau in die Zukunft
schlummert in jedermanns Seele. Während nämlich der
vernünftige Geist (vovq) die Formen des Seins enthält, schließt
die Seele (tyvxy) die Formen des Werdens ein. Der Geist ist ein
ewig seiendes, die Seele ein ewig werdendes Wesen. Die Seele
enthält zwar sämtliche Formen des Werdens, die meisten jedoch
in zeitlich iatenter Weise. Nur die jeweils zuträglichen läßt sie
dem Bewußtsein erscheinen. Der Spiegel aber, in dem sich die
Bilder, die ihren Sitz in der Seele haben, zeigen, heißt Phantasie
.
(Fortsetzung folgt.)
Okkultismus — Religion — Metaphysik.1)
Von H. Hänig (Zwickau).
B. Niebuhr, der im Jahre 1850 seine römische Geschichte veröffentlicht
hat, hat in der Vorrede den prophetischen Ausspruch
getan, daß, wenn nicht Gott wunderbar helfe, seine Generation in
eine bevorstehende Zerstörung blicke, wie die römische Welt sie
um die Mitte des dritten Jahrhunderts erfahren habe. Dieses Ereignis
ist jetzt eingetreten: wir stehen tatsächlich am Ende eines
Zeitalters, das durch die höchste Ausbildung der Technik und die
Entwicklung der exakten Wissenschaften wie kein anderes ausgezeichnet
war, das aber andererseits durch sich selbst zugrunde
gehen mußte, weil diejenigen Faktoren fehlten, die allein imstande
sind, für eine gesunde und dauernde Entwicklung der Dinge Bürgschaft
zu leisten. Die Entwicklung muß also in Zukunft durch
andere Faktoren bestimmt werden als diejenigen sind, die bisher
im Vordergrunde unserer Kultur gestanden haben: nicht durch
den Egoismus, wie ihn unsere Massenkultur in allen erdenklichen
Formen hervorgebracht hat, sondern durch den guten Willen des
Einzelmenschen, an seiner sittlichen Besserung zu arbeiten; nicht
durch den Ausbau von Maschinen, die imstande sind, in einer
einzigen Minute Hunderten von Menschen das Leben zu nehmen,
sondern durch den sozialen Willen der Menschheit, ihr Wohl gegenseitig
nach Kräften zu fördern und sich dadurch selbst auf eine
höhere Stufe zu versetzen. Diese neue Entwicklung kann aber
*) Obiger Aufsatz bringt zwar den meisten Lesern der „Psych.
Stud." wohl nichts Neues, bildet aber eine wissenschaftliche Ergänzung
meiner früheren Arbeit über „ Wandlungen und Wege auf
dem Gebiete der sog. Geheimwissenschaft.* (Vergl. Maiheft 1915,
8. 171 ff.) H.
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