http://dl.ub.uni-freiburg.de/diglit/psychische_studien1916/0060
56 Psychische Studien. XL1II. Jahrgang. 2. Heft. (Februar 1916.)
auch Heilzwecken diente, konnte ich nicht ermitteln. Herr Rosenora
sagte mir, daß die buddhistischen Priester keine Heilpraxis
ausübten und auch die shintoistischen nicht im Tempel, sondern
nur in den Privathäusern. Indes sind Ausnahmen immerhin möglich
, und ist der Tempel, wie gesagt, stark vershintot. Alle im Tempel
Anwesenden kamen der Reihe nach daran, die geschilderten Prozeduren
an sich vollziehen zu lassen. Die Anzahl der Männer und
Frauen war etwa die gleiche. Das Ganze erinnerte an gewisse
heilmagnetische Verfahrungsweisen.
Oberhalb des kaiserlichen Sommerschlosses Shugakuin-rikyu liegt
der mächtige, aber steile Hiyei-san, von dessen alpiner Höhe aus
man eine gewaltige und herrliche Aussicht genießt. Dort liegen
die alten, jetzt leider stark verfallenen Buddhistenklöster, die
einst so mächtig waren und politisch so hervortraten, daß der
Mikado Shirakawa sagte: „Dreierlei kann ich in meinem Reich nicht
meistern, die Wildwässer des Kamogawa, die Spielleidenschaft
meines Volkes und die Bergmönche." Heute ist es um ihre Macht
getan.
Es folgt der Abstieg zu dem überaus schönen Biwasee mit der
tausendjährigen heiligen Riesenkiefer von Karasaka, unter der
Japans berühmteste Dichterin ihr Zelt aufschlug, und dem
Kwannontempel Miidera mit prächtiger Aussicht über See und Gebirge
. Hier fand ich eine Säule wieder, die ich schon einmal im
Garten des Verbrennungstempels gesehen hatte. Der untere Teil
ist wie bei einer Steinlaterne geformt, statt einer solchen folgen
aber drei Schichten und auf diesen, sich rasch verjüngend, gleichfalls
symbolisch, neun weitere Schichten. Diese Art von Steinpagoden
stammt aus Birma. So haben die Japaner mancherlei
aus dem Ausland bezogen, ohne viel nach dem Warum zu fragen.
Auch den Glücksgott Hotei haben sie ohne weiteres aus China importiert
, nebst verschiedenen andern Göttern, mit fix und fertigem
Kultus.
Der am Ausfluß des Biwasees auf aussichtsreicher Höhe gelegene
Tempel Ishiyama ist gleichfalls besuchenswert. Dort gibt es ein
berühmtes Orakel. Im Tempel hängt ein Köcher mit einer großen
Zahl von eisernen Pfeilen gefüllt, deren jeder eine Ziffer trägt.
Diese Ziffer nennt, wer sie gezogen hat, den * Priestern, die ein
sibyllinisches Buch aufschlagend dem Fragesteller auf Grund der
genannten Zahl die Zukunft enthüllen. Herr Rosenörn, der mich
dorthin begleitete, erzählte mir beim Aufstieg, daß er bereits zweimal
dort das Schicksal befragt und jedesmal dieselbe Nummer
gezogen habe, nämlich 7. Und nun folgt das Merkwürdigste.
Als er heute zum dritten Male in den Köcher griff, zog er vor
meinen Augen wiederum eine Sieben heraus. Im übrigen gilt
diese Zahl als eine verhältnismäßig glückliche.
http://dl.ub.uni-freiburg.de/diglit/psychische_studien1916/0060