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Freudenberg: Streiflichter auf japanischen Kultus.
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Unmöglich kann ich den freundlichen Leser bitten, mir zu
allen Tempeln Kyotos und der Umgegend zu folgen; nur nach
Otokoyama zum Hachimanfest möchte ich ihn noch führen. Dieser
Tempel, zu dem man auf mehreren hundert Stufen etwas mühsam
emporsteigt, liegt zwar nicht wie die vorgenannten in einer
heroischen Landschaft, dagegen in einer sehr lieblichen Gegend,
die wenig seiner martialischen Bestimmung entspricht. Man
glaubt sich nach Thüringen versetzt. Aber die mächtigen Kanonen
, Broncepferde und ähnliche Weihgeschenke deuten energisch
den Tempel des Kriegsgottes an. Eben hat dieser nun einen Besuch
in der Nachbarschaft, wie alljährlich einmal, ausgeführt, und
jetzt handelt es sich darum, die schon unten im Tal angelangten
Palankine, in denen sein Geist wohnt, in feierlichem Zuge wieder
hinauf in sein Heiligtum zu führen. Das ist das viel besuchte
Hachimanfest von Otokoyama. Die schön mit Blumen geschmückten
Palankine stehen am Fuß des Berges in einer Tempelhalle auf
hohem Podest. Rundherum Kirchweihzelte. Berg und Tal wimmelt
von Menschen. Den ganzen Nachmittag werden vor den
Palankinen Rauch- und Speiseopfer dargebracht. Mehrere hundert
Priester sind in Tätigkeit. Man sieht sie lebhaft mit Papierwedeln
herumfuchteln. Endlich schlägt die siebente Stunde und es wird
Nacht. Der ganze Weg atif den Berg wird freigemacht und der
Zug setzt sich mit Fackeln und Lampions in Bewegung. Die Gewänder
der Priester und Tempeldiener leuchten in allen Farben,
Tanzmädchen mit aufgeblasenen Pluderhosen bewegen sich in
einem schwebenden Schritt. Fahnen, rotlackierte Tempelladen,
Zierbäume usw. beleben den Zug. Den heiligen Palankinen schreiten
musizierende Priester voran mit unglaublich langen Flöten und
Trommeln in Sanduhrform, so daß dieses Gemisch von schrillen
und dumpfen Tönen, die sehr gemessen und unterbrochen erfolgen
, eine eigenartige Melodie*) ergibt. Dieser priesterlichen
Kapelle folgt eine Abteilung von Männern in Samuraitracht, die
sehr martialisch ausschauen. Auch ein Korps von Bogenschützen
*) Gleich den Chinesen haben auch die Japaner die rein chromatische
Tonleiter, so daß ihre Musik auf uns befremdend wirken
muß, wie auch umgekehrt. Wer indes lange genug im Lande verweilt
, um ein Verständnis für die von der abendländischen so ganz
abweichende Musik der Japaner zu gewinnen, der mag auch in der
Lage sein, ihre Vorzüge zu würdigen und sie schön zu finden. So
macht ein im Japan-Magazin 1912, wahrscheinlich aus der Feder eines
der deutschen Professoren an der kaiserl. Musikakademie in Tokyo,
erschienener Artikel darauf aufmerksam, daß die Musik in Japan zu
einer Zeit schon eine hochentwickelte Kunst war, als im Westen
nach wilde Geräusche die Stelle derselben vertraten. Die japanische
Musik, sagt jener Pseudonyme Schreiher, kommt von der Seele und
spricht zur Seele, Sie ist unmittelbar, spontan, und berührt das
Ohr mit einem Beiz und einer Neuheit, welche die Seele des Hörers
mit ihrer immateriellen Originalität erfüllen.
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