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74 Psychische Studien. XLIII. Jahrgang. 2. Heft. (Februar 191(>.)
halb bewußten Zustande schafften, wie Goethe, Beethoven, Chopin,
Schumann u. a. Ich könnte auch aus der Kirchengeschichte
Englands, die Beda venerabilis verfaßt hat, die anmutende Erzählung
von dem Klosterknecht Cädmon hier anführen, von dem
Beda schreibt:10) „Er hatte nicht durch Menschen und den Unterricht
die Kunst des Gesanges gelernt, sondern durch die göttliche
Gnade diese Gabe erlangt." Er fühlte plötzlich nach einer Traumvision
, in der ihm Maria erschienen war, die Gabe der Dichtkunst
in sich. Ja Synesios hat an sich selbst Ähnliches erfahren gerade
bei der Abfassung seines Traumbuches. Berichtet er doch seiner
verehrten Lehrerin Hypatia,17) er habe diese Schrift aufGottes
Geheiß verfaßt und sich da mit einer Untersuchung über
die Phantasie beschäftigt, worüber noch kein Grieche etwas geschrieben
habe. Die ganze Schrift habe er in einer einzigen
Nacht ausgearbeitet (egeiQYaötai filv lüti fiiäq äitav
vvxtoq), oder vielmehr in einem Teil der Nacht, die ihm die
geistige Anschauung über die Abfassung des Buches
brachte, und so sei er sich zwei- bis dreimal ganz wie ein
anderer dabei vorgekommen, der sein eigener Zuhörer
geworden sei. Gerade dieser Nachsatz ist das Charakteristische
für das teilweise unterbewußte oder somnambule Arbeiten
des Synesios. Damit erledigt sich auch die Bemerkung Kieffners
im Kirchenlexikon,18) als sei die Abhandlung „angeblich** in einer
Nacht geschrieben. Synesios ist durchaus wahrhaftig und zuverlässig
. Es ist das übrigens eine Erfahrung, die so mancher geistig
Schaffende an sich gemacht hat und die z. B. bei den sog.
Schreibmedien eine häufige Erscheinung ist. oo sagt
auch die bekannte Volksdichterin Johanna Ambrosius von sich:10)
„wenn ich ein Lied schreibe, bin ich so erregt, so weltentrückt, daß
ich mir wie eine Fremde vorkomme**.
Außer diesen künstlerischen Inspirationsträumen, so belehrt
uns Synesios weiter Kapitel 3, gibt es auch Warnungsträume
und eine Art Heilschlaf. Er hat sich über den
letzteren nicht näher ausgesprochen, aber ich verweise diesbezüglich
auf die sehr beachtenswerten Ausführungen Du Preis in seiner
Experimentalpsychologie20) und in der „Magie als Naturwissenschaft
**,21) wonach eine Art von Autodiagnose oder Heilmittelinstinkt
sich im Schlafe, in dem oft die feinsten inneren Regungen
des Organismus zur Wahrnehmung gelangen, zur mehr oder minder
klaren Vorstellung des Heilmittels steigern kann, woraus sich dann
die bekannten Selbstverordnungen von Somnambulen erklären, die
Buch 4, Kap. 24.
17) Epist. 155, Migne, S. gr.66 S. 1558 «i s. v. Synesios S. 1116.
*9) Gedichte. 40 Aufl. Königsberg 1902. Vorrede.
20) Leipzig, Friedrich 1891, im Kapitel: Moderner Tempelschlaf.
21) Jena, Costenoble 1899, Bd. 2 S. 274.
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