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102 Psychische Studien. XLIII. Jahrg. 3. Heft. (März 1916.)
Ich verspürte indessen absolut keine Müdigkeit, sondern fühlte
mich so frisch, als wäre ich eben erst aufgestanden. Und so blieb
ich, während die Hauswirtin schon gegangen war, auf meines
Mannes Platz sitzen und strickte weiter. Ich mußte denken, was
wohl mein Mann sagen würde, wenn er mich so fleißig stricken
sähe; er würde wohl lachen. So lächelte ich im Gedanken an ihn
still vor mich hin, bis mir einfiel, daß ich im nebenanliegenden
Schlafzimmer, dessen Türe offen stand, an diesem Abend das Licht
hatte brennen lassen. Nun waren beide Zimmer festlich beleuchtet
. Ich wollte immer aufstehen und das Licht im Schlafzimmer
ausmachen, aber es hielt mich wie mit Ketten auf dem
Stuhl fest. So strickte ich weiter und wunderte mich über meine
Frische, daß so gar keine Müdigkeit kommen wollte. Da schlug
die Uhr 12. Ich sah auf und dachte: schon 12 Uhr. Das ist ja
die Geisterstunde. Indessen war ich nie abergläubisch, glaubte
nie an Geister; ich war frei von jeder Angst, mir war auch jetzt
nicht unheimlich zu Mute. Kaum hatte es 12 geschlagen, so
knarrte es plötzlich im erleuchteten Schlafzimmer» dessen offener
Tür ich den Rücken zudrehte, Ich vernahm das Knarren, doch
drehte ich mich gar nicht um, sondern strickte weiter. Nach ungefähr
3 Minuten knarrte es wieder. Ich gab abermals nichts
darauf und strickte weiter. Als es des öfteren — immer in kurzen
Zwischenräumen — knarrte, stand ich noch nicht auf, sondern
drehte mich etwas unangenehm berührt so über die Schulter weg
um und sah ins Schlafzimmer, dabei dachte ich: „Wo kommt nur
dieses Knarren her ? Im Haus schläft alles, geheizt ist nicht, so daß
die Möbel nicht krachen können.*' Dann strickte ich wieder weiter.
Da aber das laute Knistern nicht aufhörte, stand ich auf, ging in's
Schlafzimmer, schloß das Fenster, ließ die Jalousie herunter und
stellte mich mitten in's Zimmer, um feststellen zu können, wo das
Geräusch herkam, ob aus dem Schrank, dem Fußboden usw.
Es knarrte wieder und doch konnte ich nicht sagen, aus welcher
Ecke, von welcher Stelle das Geräusch herkam. So ging ich
wieder in's andere Zimmer, sah in ein Buch, las einige Zeilen und
hörte immer noch jenes Knarren. Die Uhr schlug 3/22 und kaum
war der Schlag verklungen, da höre ich deutlich einen dumpfen
Knall und dann einen dumpfen Fall! Es war, als ob dies im
Schlafzimmer durchs Fenster gekommen wäre. Dann war es
grabesstill. Ich fühlte sofort, daß es kein reales Geräusch gewesen
war und sah daher gar nicht nach. Mir war eiskalt und
ich w u ß t e nun, daß etwas passieit sein müsse. Sogleich drehte
ich im Wohnzimmer .das Gas aus und beinahe resigniert begab
ich mich ins Schlafzimmer. Als ich in den Spiegel sah, war mein
Gesicht wie aus Stein. Kein Zug regte sich mehr, starr blickte
ich und wußte es selber nicht. Wie benommen stand ich vor
dem Waschtisch und begann, mich auszukleiden. Da wurde die
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