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150 Psychische Studien. XL1II. Jahrgang. 4. Heft. (April 1916.)
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Nähe die schweren Wunden und Zerstörungen sieht, die der Krieg
an Leib und Seele des Volkes erzeugt? Wenn der Jurist und
Staatsmann sich in die völkerrechtlichen Zusammenhänge
des Zeitgeschehens vertieft, wenn der Historiker den letzten
Ursachen des geschichtlichen Lebens der Gegenwart nachforscht,
wenn der Theologe und Philosoph mit Staunen und Bewunderung
die Völker unter dem Eindruck dieser furchtbar-großen
Zeil in ihren tiefsten Gefühlen, in ihrem Verhältnis zum Ewigen
aufgerüttelt sieht, wenn Naturwissenschaft und
Technik sich mit Stolz und Eifer in den Dienst des Krieges
stellen, der ja vor allem mit den von ihnen geschmiedeten Waffen
geführt wird, wenn der Volkswirtschaftler mit jedem
Tage vor neue Aufgaben gestellt wird, in deren Bewältigung er
die frohe Gewißheit seines Könnens erlebt, — so steht der Arzt
vor der bedrückenden Arbeit, mit schwachen Kräften einer grauenvollen
Zerstörung Einhalt zu tun, die Leiden und Qualen von
Hunderttausenden seines Volkes zu mildern. Und auch da, wo
er mit Recht sich erfolgreichen Könnens rühmen darf, wie in der
Bekämpfung der Kriegsseuchen, in der Heilung der Wunden und
in der Hilfe für die Verstümmelten, wird er doch niemals von dem
schweren Drucke befreit, mit dem sein Amt ihn belastet, wenn er
es Tag für Tag erlebt, wie heute mehr als jemals in der Geschichte
der Menschheit der Satz gilt, daß der Krieg die Besten
des Volkes dahinraffe.
Und nun gar dieser Krieg! Hat nicht die Erkenntnis
seiner grauenvollen Wirklichkeit dazu geführt, das, was wir jetzt
in Europa erleben, als den Ausdruck eines Wahnsinns der
Völker zu bezeichnen? Man nehme eine Zeitung oder eine Schrift
über den Krieg zur Hand: schon nach kurzer Zeit stößt man auf
Worte wie „Irrsinn des Krieges**, „Kriegspsychose
**, „Nationalwahnsinn**, „wahnwitzige
Verblendung des Gegners**, „moral
i n s a n i t y ** eines Fürsten oder Staatsmanns. Wird nicht
das Ausmaß des Ungeheuren, was uns dieser Weltbrand vor
Augen stellt, von den noch vor Kurzem kulturstolzen Völkern
Europas selbst als pathologisch empfunden? Und wenn
wir es über uns bringen, zu lesen, was unsere Gegner über uns
schreiben, wenn wir wahrnehmen, wie das, was noch vor zwei
Jahren an uns gerühmt v/urde, heute in den tiefsten Schmutz gezogen
wird, wenn wir so Maß und Ordnung in allem menschlichen
Denken und Werten vermissen, — greifen wir uns da nicht manchmal
fragend an den Kopf, ob denn die Völker der Erde tatsächlich
dem Wahnsinn verfallen sind?
Die Sprache der Wissenschaft ist eine andere,
als die Sprache des täglichen Lebens. Auf keinem
Gebiet gilt dies mehr als im Reiche des krankhaften geistigen Ge-
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