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Gaupp: Wahn und Irrtum im Leben der Völker,
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schehens. Was die Psychiatrie unserer Tage mit Irrsinn, Wahnsinn
, Psychose, Verrücktheit, Idiotie und Blödsinn, Tobsucht und
Hysterie und ähnlichen Worten zum Ausdruck bringt, weicht vom
täglichen Sprachgebrauch weit ab, und es ist bei dem geringen
Verständnis der Laien für unsere Wissenschaft dem Psychiater
schwer gemacht, von seinem ärztlichen Standpunkt aus zu allgemeinen
Erscheinungen einer Zeit Stellung zu nehmen, die mit
den Ausgeburten des Wahnsinns belastet sein soll. Und wenn
dieser Psychiater selbst als Sohn eines Volkes von der Liebe zu
ihm tief bewegt, aber gleichzeitig von Ehrfurcht vor der unbestechlichen
Wahrheit der Wissenschaft erfüllt ist, so kann es ihm
nicht leicht gelingen, als kritischer Forscher zum Verständnis unbegreiflich
erscheinender Geschehnisse vorzudringen, oo müssen
meine Ausführungen als die Worte eines Mannes genommen
werden, der mitten in den Ereignissen steht und von ihrer Größe
selbst aufs tielste ergriffen wird. Daß er dabei nicht immer kühl
und streng objektiv bleiben kann, ist seine Schwäche und
zugleich sein Stolz. Soweit es seine Schwäche ist, hat er dafür
um Ihre Nachsicht zu bitten.
Unsere Wissenschaft lehrt, daß Geisteskrankheiten
Erkrankungen des Gehirns sind, deren Zeichen auf
körperlichem und geistigem Gebiete liegen. Die körperlichen
Symptome können unwesentlich sein, die geistigen sind auffälliger
und sozial bedeutungsvoller. Der Laie kennt häufig nur sie und
— beherrscht von dem uralten Dualismus von Leib und Seele —
sieht er in der Geisteskrankheit eine krankhafte Verirrung der
Seele, deren Symptome in der gleichen Weise verstanden sein
wollen, in der wir den beweglichen Stimmungen und Gedanken,
den wechselnden Urteilen und Meinungen, Gefühlen und Willensäußerungen
der Menschen mit dem Rüstzeug der einfühlenden
Psychologie nachzugehen pflegen. Wo diese seelischen
Erscheinungen ungewöhnlich, nach Stärke, Inhalt und Form unbegreiflich
werden, ist der Laie bereit, ihnen Namen zu geben, die
der Krankheitslehre entnommen sind. So wird das Außerordentliche
, Grauenvolle, Widerspruchsvolle, das der eigenen Stimmung
und Denkart nicht Adaequate zum Tollen, Verrückten, Wahnsinnigen
, Blödsinnigen, Idiotischen. Und wie man unbedenklich
der Seele des Einzelnen die Seele des Volkes als Einheit
gegenüberstellt, so nimmt man auch keinen Anstoß, Krankheiten
dieser Volksseele anzuerkennen. Nun ist ja
bekanntlich der Wahn eines der auffälligsten Zeichen geistiger
Erkrankung und so trägt das naive Bewußtsein des Laien kein
Bedenken, vom „Wahn eines Volkes" zu sprechen.
Allein die Krankheit ist beim Menschen kein soziales
Gebilde, sondern immer eine Einzelerscheinung. Wohl
können von einer Krankheit, z. B. einer Seuche, fast gleichzeitig
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