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Gaupp: Wahn und Irrtum im Leben der Völker.
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Dinge zu entziehen. Heilt der Wahn, so geschieht es nicht durch
die Überzeugung von seiner Unrichtigkeit, nicht durch die ausredende
Kraft des Arztes, durch Logik oder Psychologie, sondern
nur durch das Schwinden der ursächlichen Krankheit Er fällt
von dem Genesenden ab wie die Schuppen der Haut von dem ge*
nesenden Scharlachkranken.. Und wo er, wie beim Verrückten
nicht heilt, da wird er mit allen Hilfsmitteln der Logik vom
Kranken verteidigt, auch wenn er aller übrigen Lebenserfahrung
ins Gesicht schlägt. Es sind eben andere, aber durchaus zwingende
Erlebnisse, die der Hirnkranke hat und auf die sein Wahn sich
gründet. Immer aber sind es Vorgänge, die in einem allgemeinerkrankten
Gehirn ihre Stätte haben, bei denen die ganze Persönlichkeit
tiefgehende Veränderungen erfährt. Und fast immer gilt
dabei das alte Wort: „tua res agitur**; der Wahn ist
„egozentrisch".
Nach seinem Inhalt ist der Wahn eine falsche Vorstellung
oder eine Reihe zusammenhängender falscher Gedanken, deren
Unrichtigkeit für den Beobachter meistens leicht erweisbar ist.
Diese Betonung des Inhaltlichen war es, die zu einer Verwechslung
des Wahns mit verwandten, aber doch grundsätzlich
davon zu trennenden Erscheinungen zu führen pflegt.
Falsche Vorstellungen sehen wir täglich auch beim I r r t u m und
beim Abei glauben als kennzeichnende Merkmale. Volle
Wahrheit ist uns Menschen versagt, unser Urteil über den Zusammenhang
der Dinge ist voller Irrtümer. Das Wissen ist die
Ausnahme, der Irrtum die Regel. Auf den Gebieten aber, auf
denen kein Wissen möglich, ein Verlangen nach Wahrheit aber
vorhanden ist, herrscht der Glaube. Enthält er keinen Widerspruch
gegen das Wissen der Zeit oder hat er Sätze zum Inhalt,
deren Beweisbarkeit überhaupt jenseits aller möglichen Erfahrung
liegt, so beansprucht er mit Recht, der Untersuchung des wissenschaftlichen
Denkens entzogen zu sein. Kommt es aber zu unlösbaren
Widersprüchen mit der fortschreitenden wissenschaftlichen
Erkenntnis, so wird aus dem Glauben, sofern er von dem sehnsüchtigen
Gemüte festgehalten wird, der Aberglaube. Der
Aberglaube unserer wie jeder Epoche ist der Glaube vergangener
Zeiten. Sein Ursprung reicht in die früheste Kindheit der Völker
zurück.
Damit ist jedoch nur eine Seite des Unterschieds von
Glauben und Aberglauben herausgehoben. Noch etwas anderes
kommt hinzu, was H o b b e s in die Worte zusammenfaßte, Religion
sei das, was der Staat zu glauben gestatte, Aberglauben das,
was er verbiete. Setzen wir statt Staat Kirche, so gilt der Satz
auch noch für unsere Tage. Für den Christen ist Aberglaube,
was für den Islambekenner Glaube ist und umgekehrt.
Glaube und Aberglaube sind soziale Erscheinungen, der
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