http://dl.ub.uni-freiburg.de/diglit/psychische_studien1916/0161
Gaupp: Wahn und Irrtum, im Leben der Völker. 157
Die kritische Überlegung des Einzelnen nimmt in der Masse ab,
sein Verantwortlichkeitsgefühl sinkt, unbewußt wirkt der Nachbar
durch Gebärden und Worte auf den Nachbar, Affekte werden
leichter erregt, wachsen rascher an, der Einzelne sinkt im
selbständigen Wert der Persönlichkeit. Dunkle Instinkte
werden wach und drängen zu roher Betätigung; die Geschichte
der Massenverbrechen weiß davon zu berichten. Die Nachahmung
gewinnt ungeahnte Gewalt. Das Gefühl der Solidarität
einer Masse gegenüber den Anderen außerhalb ihr verschlechtert
ihre Moral. Man denke an die politischen Wahlkämpfe
mit ihren moralischen Entgleisungen, man beachte den
alten römischen Satz: „Senatores boni viri, senatus autem mala
bestia". Die Erregung der suggestiv bearbeiteten Masse neigt aber
nicht bloß zum affektiven Extrem, sondern auch jähem Umschlag
der Gefühlslage, wenn ein geschickter Meister sie lenkt.
Shakespeare hat dieser Tatsache in der Rede des Antonius
ein für alle Zeiten klassisches Denkmal gesetzt.
Die Suggestibilität eines Volkes ist aber
nicht nur abhängig von seinen negativen Eigenschaften, seiner
Unbildung und mangelhaften logischen Schulung und von seiner
Ansammlung in der Masse, sondern auch von gewissen
herrschenden Ideen einer Zeit. Man hat nicht
ohne Recht von lenksamen Zeitaltern gesprochen. Ihre
besondere Lenksamkeit lag vor allem in ihrer eigenartigen
Gefühlslage. Angst und Ratlosigkeit, seelische Zermürbung
durch rätselhafte und grauenvolle Ereignisse der Zeit wie Pest und
Cholera, Erdbeben und Hungersnot, Kriege und Glaubenskämpfe,
Sündenreue und Askese schufen zusammen den Boden enorm gesteigerter
Suggestibilität, auf dem die Verirrungen des religiösen
Glaubens jene seelischen Massenepidemien geschaffen haben, die
wir heute noch mit einem Gemisch von Staunen und Grauen betrachten
. Kreuzzüge der Erwachsenen und Kinder, um das
heilige Grab aus den Händen der Glaubensfeinde und sich selbst
von der Sünden Last zu befreien, Flagellantentum
und Tanzwut, , Hexenwahn und Judenverfolgungen
, Krampfepidemien in Klöstern, Schulen
und Waisenhäusern, R e 1 i g i o n s - und Konfessionskriege
und Sektiererverbrechen — es kann nicht
meine Aufgabe sein, alle jene trostlosen Verirrungen der Volksseele
hier im Einzelnen aufzuführen.
Wer aber waren die Urheber dieser unheilvollen „Massenerkrankungen
'* der Völker? Einzelne von ihnen waren geisteskrank
. Aber die Mehrzahl von ihnen war nicht krank, sondern
von anderer Seelenbeschaffenheit. Fanatische Glaubenseiferer,
dogmatisch verirrte Priester, kluge Betrüger und herrschsüchtige
Pfaffen, hysterische Frauen und Mädchen, schwärmerische Kinder
http://dl.ub.uni-freiburg.de/diglit/psychische_studien1916/0161