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158 Psychische Studien. XLIII. Jahrgang. 4. Heft. (April 1916).
und asketische Finsterlinge mit sadistischer Geschlechtsgier sehen
wir am Anfang und auf der Höhe geistiger Epidemien. Der
faszinierende Reiz des Märtyrertums fand sich in einer Zeit
dogmatischer Gebundenheit, in der die Bibel die selbstverständliche
Grundlage alles Wissens und Denkens war, mit der sexuellerotischen
Ekstase zusammen; Religion und Geschlechtlichkeit
verbanden sich eng miteinander. Von den 7 Formen der Hexerei,
die der Hexenhammer aufführt, hatten es 5 mit geschlechtlichen
Dingen zu tun. Solange die Religion den Kern der menschlichen
Seele erfüllte, solange die Kirche ihre Gläubigen mit der Furcht
vor Gott, Teufel und Hölle in der Gewalt hielt, trugen die geistigen
Epidemien inhaltlich den Charakter religiöser Wahnbildung
. In den 5 Jahrhunderten, in denen der Hexenwahn
Millionen unschuldiger Frauen, von denen manche geisteskrank,*
sehr viele hysterisch waren, zu Folter und Scheiterhaufen führte,
lieh der dogmatisch gläubige Staat der Kirche und dem Volksaberglauben
seinen strafenden Arm. Innocenz der Achte erließ jene
grauenvolle Hexenbulle „Summis desiderantes" vom
Jahr 1484, die juristischen Fakultäten wetteiferten in spitzfindigen
Beweisführungen für Hexenschuld und Zauberei. Ein
entsetzlicheres strafrechtliches Verfahren, als es der von zwei gelehrten
Mönchen verfaßte Malleus maleficaruro, der
Hexenhammer des Jahres 1487, darstellt, hat die Erde wohl niemals
gesehen. Die Erhebung der Anklage wegen Hexerei war fast
immer gleichbedeutend mit der Verurteilung zum qualvollsten Tode.
Die Unkenntnis der einfachsten Tatsachen der Hysterie wurde zum
furchtbarsten Unglück für die Völker Europas. Denn was als
Beweis der todeswürdigen Schuld mit Folter und Seelenqual aus
den unglücklichen Opfern des Hexenwahns herausgeholt wurde,
war nichts als die alltäglichen Zeichen hysterischer Her-
k u n f t : unempfindliche Stellen der Haut, Störungen der
Tränenabsonderung, Krämpfe und Lähmungen, Vis.onen und
Delirien.
Lesen wir heute die Geschichte jenes trostlosen Aberglaubens
, den auch die Reformation nicht zu beseitigen vermochte
, der aber in einem Jesuiten des 17. Jahrhunderts (Friedrich
Spee) einen seiner gefährlichsten Gegner hatte, so staunen wir
über die unbegreifliche Macht der Suggestion über Erfahrung
und Denken. Als dann die "dogmatische Gebundenheit
der europäischen Völker abnahm, als die Zeiten religiöser
Massenerregung abklangen, als die Wissenschaft ihr Haupt erhob
und die krankhaften Grundlagen der ekstatischen und visionären
Zustände erkannte, traten auch die religiösen Massenepidemien
immer mehr zurück. Zwar sind sie niemals ganz verschwunden
, sondern führen heute noch als wunderliche Sekten
in Rußland, als Spiritismus und Christian science
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