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162 Psychische Studien. XLIII. Jahrgang. 4. Heft. (April 1916.)
ausstellung von 1831 zu Paris) sich vornahm, „die Beurteilung
technischer Mängel und Vorzüge soviel als möglich zu vermeiden,"
so hat doch kaum jemals ein Fachkritiker das Wesen der Malerei
und die Bedeutung der einzelnen Meister, wie die eines Ary
Scheffer, Delacroix, Vernet usw., so scharf und tief erfaßt, wie
Heine. Noch augenfälliger ist dies intuitive Verstehen auf dem
der Poesie schwesterlich verwandten Gebiete der Musik, deren
Wesen Heine einst selbst als „Offenbarung** bezeichnet hat. Heine
hat nie ein Instrument gespielt, oder musiktheoretische Studien getrieben
, und der Musiker Ferdinand Hiller berichtet, Heine habe
ihm einst lachend erzählt, „er habe durch lange Jahre geglaubt,
der Generalbaß sei der Contrebaß, — von wegen seiner stattlichen
Größe**. — Trotz des Mangels an Fachkenntnissen aber sind
Heines Musikkritiken (in der „Lutetia** gesammelt) zutreffender,
wahrer, als es die gelehrtesten Fachabhandlungen sein könnten.
„Mit wunderbarem Scharfsinn und einer glühenden Phantasie erfaßte
er,** so sagt sein trefflicher Biograph Karpeles, „das Wesen
der Musik, die Gedanken und die feinsten Intentionen der Komponisten
und Künstler. Es ging ihm mit der Musik wie mit mancher
Wissenschaft, insbesondere der Philosophie, deren Wesen und Bedeutung
er ja auch klarer darzustellen verstanden hat, als mancher
exakte Forscher.** Der Heine engbefreundet gewesene Hiller
äußerte in bezug auf Heines Musikverständnis: „Er hörte und
erriet viel mehr, als sogenannte musikalische Leute. Es gehört
dergleichen meiner Meinung nach zu
dem vielen Unbegreiflichen, was genialen
Naturen eigen ist" —.Wie tief aber die Wurzeln
dieses „Verstehens" im Übersinnlichen ruhten, wie sehr es ein
intuitives Schauen war, geht aus einer überaus seltenen
Begabung Heines hervor, deren Tätigkeit durch die Musik ausgelöst
wurde. Näheres verraten die „Florentinischen Nächte**,
speziell jene phantastischen, genialen Charakteristiken Paganinis
und Franz Liszts, die am Lager der sterbenden Maria wie in eine
Stille ohne Hoffnung fallen. „Was mich betrifft,** heißt es da,
„so kennen Sie ja mein musikalisches zweites Gesicht
, meine Begabnis, bei jedem Ton, den
ich erklingen höre, auch die adäquate
Klangfigur zu sehen,*' und weiterhin spricht er
von der „Transfiguration" der Töne, die mit jedem neuen Bogen-
striche Paganinis vor seinem geistigen Auge vor sich geht. Die
rätselvolle Naturanlage näher zu beleuchten, erzählt Heine von
einem tauben Maler, der trotz seiner Taubheit die Musik leidenschaftlich
liebte, den Musikern die Musik vom Gesicht zu lesen
und an ihren Fingerbewegungen die mehr oder minder gelungene
Exekution zu beurteilen verstand. „Was ist eigentlich da zu verwundern
? In der sichtbaren Signatur des Spieles konnte der
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