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210 Psychische Studien. XLIII. Jahrg. 5. Heft. (Mai 1916.)
zehnten Frankreichs trauriges Vorbild des Ein- und Zweikindersystems
auch in Deutschland heimisch werden lassen
und zwar — entgegen der Erwartung — bei denen am meisten,
die am wohlhabendsten sind. Werden die allgemeinen biologischen
Gesetze des Völkerwachstums und des Völkeruntergangs
in verhängnisvoller Verblendung unbeachtet gelassen, so
wird die Blüte unseres Volkes umsonst auf den Schlachtfeldern
Frankreichs und Rußlands gefallen sein und ihr Sieg wird den
Untergang der deutschen Kultur schließlich nar wenig aufhalten
können. Wir müssen den Dingen frei und klar ins Auge sehen:
Großes und Schönes ist von den besten Männern und Frauen
ins Volk getragen worden, eine mächtige Welle von Idealismus
flutet über Deutschland hin, ein starker sozialer Geist und ein
wunderbarer Opfersinn ist durch die Not der Gegenwart in der
leicht empfänglichen Seele des modernen Menschen geweckt worden
. Aber erst wenn aus Stimmungen Gesinnungen
gewoiden sind, wenn der niemals mächtigere Staat mit rücksichtsloser
Energie den Auswüchsen großkapitalistischer Ausbeutung den
Kopf abgeschlagen hat, darf die Gefahr als gebannt erscheinen,
von der unsere deutsche Kultur wie die eines jeden Volkes hoher
Entwicklung bedroht ist. Daraus ergibt sich die Größe der Auf-
gäbe derer! die Deutschlands künftiges Schicksal zu gestalten
haben. Wir erkannten die Seltenheit selbständigen Denkens, die
Leichtgläubigkeit und Bestimmbarkeit der Masse, die Macht der
Gewohnheit und die Erlahmung der aktiven Seelenkräfte bei Wegfall
von Not und Gefahr. Deutlich zeigt uns der Krieg die
Tüchtigkeit unseres Volkes, seine tapfere Pflichterfüllung
, wenn es, ferne von allem Haß und aller Verhetzung, im
klaren Gefühl seines Hechts zu harter Arbeit geleitet wird. Kranke
und Gesunde, ehrliche und geriebene Fanatiker haben es früher
oft in finsteren Irrtum, in furchtbaren Aberglauben \ersirickt, erleuchtete
Geister zu hoher und selbstloser Tat fortgerissen. Mag
auch sein Wissen gehoben, sein Können gesteigert, die Kraft seiner
Selbstbestimmung gewachsen sein, in den großen entscheidenden
Fiagen wird es immer der Führer bedürfen, und es wird von
diesen abhängen, zu welchem Ziele wir dabei gelangen.
Deutschlands Kultur — so lautet die Forderung —
soll Europa zum Segen werden. Angesichts des Hasses
einer halben Welt gegen alles, was deutsch ist* mag manchem der
. bittere Gedanke kommen, daß all unser Werben um Verständnis
für deutsche Arr völlig umsonst sei. Ich teile diesen pessimistischen
Glauben gar nicht. „Es ist sicher ein Irrtum, zu meinen, daß die
Völker unserer Feinde die Stimmungen, die ihnen gewissenlose
Machthaber und eine bezahlte Presse tagtäglich suggerieren, in
dauernde Gesinnungen umwandeln werden. Ein arbeitendes Volk
einer gewissen Kulturhöhe kennt keinen dauernden Haß gegen ein
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