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236 Psychische Studien. XL1II. Jahrgang. 5. Heft. (Mai 1916.)
von den moralischen äußerlich getrennt, aber sie sind um so mehr
innerlich mit solchen verbunden.
Die Geklärtheit der Seele, die nicht mit der leicht zu erreichenden
, bloß zur Sentimentalität, oder Frivolität führenden
sogenannten „Abgeklärtheit4* eines übersättigten Lebens identisch
ist, ist das wirkende Gesetz jeden Sprachkristalls. Sogar dann,
wenn der Stoff des Gedichtes die Ungeklärtheit selbst vorstellt.
Nur eine Seele, die sich auf den inneren Ruhepunkt, den inneren
Gott zurückbesinnt, wenn auch oft nur dunkel und unbewußt, was
durchaus nicht mit der Vorstellung des äußeren Gottes einherzugehen
braucht, vermag die Stürme an der Peripherie, die an-
drängende Erfahrungswelt im Kleinsten und Größten ästhetisch zu
bändigen. Da nun aber der sittliche Hintergrund eines Kunstwerkes
nicht leicht begrifflich ausgeschieden und fixiert werden
kann, möge obige Behauptung vorderhand nur von dem Hinweis
unterstützt werden, daß z. B. Eichendorffs munterste Lieder demselben
Geist entsprungen sind, dei die Existenz eines schönen
Waldes unmittelbar an die Existenz eines Ideales anzuknüpfen sich
gedrungen fand, und daß Goethes heidnische Ballade von der
Bajadere doch die seelische Liebe, nicht die sinnliche zum Gegenstande
hat und nicht etwa einen vom Altmeister ausgestellten Freibrief
für die letztere vorstellt, also sich auf moralischem Boden
abspielt. Das gleiche gilt von Goethes Nachtlied, das den anmutigsten
Naturgenuß vom abendlichen Wald sofort mit dem
Ernste des Todesgedankens verbindet, und von seinem Lied über
die lockende kleine Blume am Wege, das von der reinen Liebe, die
der Dichter als Mensch dem Menschen entgegenbringt, das innere
so liebiich erwärmende Feuer erhält. Die „kalte" Objektivität be-
steht nicht m der nachahmenden Wiedergabe der Erfahrungswelt,
der Künstler geht nicht auf das „Alles und Nichts *, sondern auf
das „Eine", und wenn dieses „Eine" beim Tragiker und Komiker
vornehmlich die Idee der Gerechtigkeit über die Ungerechtigkeit
ist, so besteht sie beim Lyriker, der nicht die Kräfte und Schicksale
der objektiven Menschen gegeneinandersteilt, sondern die Kräfte
und Schicksale der subjektiven Einzelngefühle, in ergreifendem und
erhebendem Adel des subjektiven Gesamtgefühles.
Der Leser wird den Grund dieser etwas polemisch geratenen
„captatio benevolentiae" lächelnd erraten, wenn ich übergehend
zur Dichterin selbst mitteilen muß, daß diese eine bösartige
Schwäche zum — wie heißt doch das starke Wort, das einen
Schiller tötet? — Moralisieren hat. Sie scheut nicht das Todesurteil
, sich mitunter sogar direkt moralische Stoffe anwandeln zu
lassen, wie z. B. in "der „Warnung"*. „Mädchen, wahre deine
Sinne", aber sie kann sich dies auch leisten, weil die Tendenz niemals
vom Stoff auf die Form überspringt und ihr Eintrag tut.
Es dringt keine fröstelnde, rhetorische Kälte in das blühende Leben
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