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Psychische Studien.
Monatliche Zeitschrift,
Vorzüglich der Untersuchung der wenig gekannten Phänomene des
Seelenlebens gewidmet.
43. Jahrg. Juni. 1916
I. Abteilung.
Historisches und Experimentelles.
Origenes und die Präexistenz.
Von Prof. Dr. Ludwig, Freising.*)
Eine der Grundlehren der modernen Theosophie, die sich auf
altindischer und neuplatonisch-gnostischer Religionsphilosophie
aufbaut, ist die von der Präexistenz der menschlichen Seele. Immer
wieder begegnet man in neueren Werken der theosophischen und
okkultistischen Literatur dem Versuch, diese Lehre auch als eine
dem Urchristentum eigene nachzuweisen. Als Hauptzeuge wird
dabei regelmäßig Origenes zitiert, der unzweideutig die Lehre von
der Präexistenz vorgetragen habe. Andererseits ist im Kirchenlexikon
von Wetzer und Welte (2. Aufl.) im Artikel „Origenes** der
Versuch gemacht worden, den geistvollen alexandrinischen Theologen
gegen diese Behauptung zu verteidigen. Die hierfür angeführten
Stellen, so wird gesagt, ließen teils eine andere Deutung
zu, teils seien sie bei den lateinischen Übersetzern so verschieden
gegeben, daß man sich ein entscheidendes Urteil nicht erlauben
dürfe. Allein beide Behauptungen, sowohl die der Theosophen
betreffs des Urchristentums als jene des Kirchenlexikons, die
Origenes die Präexistenzlehre absprechen will, sind, wie die
folgende Untersuchung zeigen wird, unrichtig. Unbestreitbar ist
vielmehr — und darin haben die Theosophen Recht —, daß
Origenes nicht nur die Präexistenz gelehrt hat, sondern daß sie
geradezu die grundlegende Idee in seiner Lehre von der Geisterwelt
bildet.
In dreien seiner theologischen Werke hat Origenes seiner
Überzeugung von der Präexistenz Ausdruck gegeben, nämlich in
seinem dogmatischen Hauptwerk „Jtegl agyföv" (De Prin-
cipiis) im Kommentar zum Johannes- und zum Matthäusevange-
*) Sonderabdruck aus den „Histor. polit. Blättern für das kathol.
Deutschland", CLVII (1916) 5. Mr. XXVIII, mit gutiger Genehmigung
des hochwürdigen Herrn Verfassers. — Red.
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