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268 Psychische Studien. XLII1. Jahrg. 6. Jleft. (Juni 1916.)
Der moderne Okkultismus und seine Probleme
in ihrem Verhältnis zu Religion und
Wissenschaft.
Von H. Hänig.1)
Wer heute — etwa vom theologischen oder philosophischen
Standpunkt — an das Studium des Okkultismus herantritt, wird
vor einer Enttäuschung nicht bewahrt werden können. Der heutige
Okkultismus hat, obwohl er in Deutschland mindestens ein halbes
Jahrhundert besteht, wenig Anziehendes: er besitzt weder ein einheitliches
, nach allen Richtungen ausgebautes System, noch bietet
er eine leichte Möglichkeit, ihn zu studieren, so daß schon Manche,
die sich ihm ernsthaft widmen wollten, diese Beschäftigung un-
mutig aufgegeben haben. Die Tatsachen sind ii aller Welt zerstreut
, und von den großen Systemen, die in der Mitte des vorigen
Jahrhunderts aufgebaut worden sind, ist kaum mehr als ein Bruchteil
übrig geblieben. Die Opposition, die zum Teil von Seiten der
Wissenschaft und der Kirche dagegen eingesetzt hat, hat das
Ihrige getan, um das Vertrauen stark zu erschüttern, das in
einzelnen Fällen dem Okkultismus entgegenbracht worden ist.
Trotzdem wird man behaupten dürfen, daß gerade in der
Gegenwart das Interesse für den Okkultismus in Deutschland so
stark wie nie zuvor ist. Er ist, wenn nicht alle Zeichen trügen,
jetzt sogar dem gewünschten Ziele näher als je gekommen: eine
ganze Reihe von hervorragenden Vertretern der Wissenschaft beschäftigen
sich heute mit seinen Problemen, und besonders die
StraHenforschung hat deutlich gezeigt, daß eine Grenze zwischen
Okkultismus und Wissenschaft in der Gegenwart kaum mehr zu
ziehen ist. Es kann nach der Natur der Dinge nicht ausbleiben,
daß auch die moderne Religionswissenschaft sich mit diesen Problemen
auseinandersetzen muß. Vorläufig wird man ihr allerdings
die abwartende Haltung nicht verdenken können, die sie gegenüber
den Ergebnissen des Okkultismus eingenommen hat. Für
eine Geistesrichtung, die von Hegel beeinflußt ist und an die
Tübinger Schule anknüpft, kann von vornherein wenig Neigung
dafür erwartet werden, sich an eine Sache zu wagen, mit der seit
Jahrhunderten der größte Mißbrauch getrieben worden ist. Wie
sollten wir auch über ein Gebiet etwas aussagen können, für das
*) Diese Artikelserie brachte die von Univ.-Prof. Dr. Rade in
Marburg in H. im 30. Jahrgange herausgegebene .Christliche Welt"
(Evangelisches Gemeindeblatt für Gebildete alier Stände) in Nr. 14
bis 16 d. J. Es ist ein bedeutendes Verdienst unseres z. Z. im
Felde stehenden, sehr geschätzten Herrn Mitarbeiters, das Interesse
der aufgeklärtem protestantischen Theologen — ähnlich wie dies der
hoch würdige Prof. Dr. Ludwig-Freising in katholischen Kreisen seit
Jahren mit bedeutendem Erfolg durchführt — auf die Probleme
und Strebeziele der okkultistischen Forschung zu lenken. — Red.
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