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Hänig: Der moderne Okkultismus und seine Probleme. 269
uns, wie Goethe sagt, die Aussicht verrannt ist, d. h. für das unsere
fünf Sinne nicht mehr ausreichen? Die moderne Weltanschauung
will sich nicht mehr mit bloßen Vermutungen begnügen, sondern
sie sucht Tatsachen und wendet sich daher instinktmäßig einzig
dem Diesseits zu, wo sie allein Sicheres zu linden hofft.
Freilich wird man dabei eine große Einschränkung machen
müssen. Auch die moderne Theologie kann nicht umhin, jenen
metaphysischen Trieb im Menschen zuzugeben, der immer wieder
das treibende Moment zu Neubildungen geworden ist und auch
heute wieder bei der Ausbreitung des Okkultismus eine große Rolle
spielt. Der Mensch, wenigstens der tiefer angelegte, hat nun einmal
das Bedürfnis, über die Sinnenwelt hinauszugehen und auf
diese Weise eine Beantwortung der Fragen zu suchen, die sich
ihm bei der Betrachtung der Umwelt täglich und stündlich aufdrängen
. Wäre dem nicht so, so wären weder die großen Systeme
der Philosophie des 19. Jahrhunderts zu verstehen noch die große
Bewegung, die heute unter dem Namen Theosophie, Spiritismus
oder Okkultismus auftritt und wenigstens in ihrer jüngsten Entwicklung
als eine Gegenbewegung gegen den Materialismus aufzufassen
ist, der seit den achtziger Jahren in Deutschland so
große Ausbreitung gewonnen hat.
Die protestantische Theologie sieht sich hier vor eine
schwierige Aufgabe gestellt. Wird sie die ganze Bewegung
ignorieren, so wird sie sich ohne Zweifel ein gutes Teil der Möglichkeit
nehmen, sich weiter zu entwickeln, und eines Tages in die
Lage kommen, sich über Fragen bei dem Okkultismus Rat holen
zu müssen, auf die ihr weder die Naturwissenschaft noch d;e
Psychologie eine Antwort geben können. Es kann den, der seit
Jahren die Entwicklung des Okkultismus und der neueren Theologie
verfolgt, nur Wunder nehmen, daß ein großer Teil ihrer Vertreter
heute immer noch nichts weiß von den Forschungen De
Rochas' und Durville's, obgleich gerade sie das größte Interesse
daran hätten. Würde sich die Theologie dagegen bedingungslos
dem Okkultismus verschreiben, so würde das eher einen Rückschritt
als einen Fortschritt bedeuten, da heute auf diesem Gebiete
noch eher als auf jedem anderen alles im Fluß ist und ein jahrelanges
Studium dazu gehört, um auch nur einigermaßen das zu
finden, was man als gesicherte Ergebnisse bezeichnen kann und was
für die Zukunft im wahrsten Sinne des Wortes fruchtbringend zu
werden verspricht.
Es liegt in der Natur der Sache, daß sich auch die neuere
Religionswissenschaft in erster Linie mit dem Gebiete des Okkultismus
auseinandergesetzt hat, das ihr am nächsten liegt und daher
die meisten Berührungspunkte mit ihr hat: der Theosophie. Der
innere Weg, den der Mensch zu gehen hat, um in den Besitz
höherer Kenntnisse zu gelangen, wird heute wieder in unzähligen
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