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Hänig: Der moderne Okkultismus und »seine Probleme.
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Natürlich hat sich auch der Spiritismus eine bis ins Einzelne
gehende Kritik gefallen lassen müssen, die für die Klärung dieser
Fragen nur förderlich gewesen ist. Trotzdem wird man behaupten
können, daß die Materialisationen für uns heute noch genau dasselbe
Rätsel darstellen wie früher. Weder die Betrugshypothese,
die man so gern dagegen ins Feld führt, noch die Annahme einer
Selbsttäuschung oder gar der Massenhalluzination genügt für alle
Fälle, um so mehr als es sich im letzteren Falle noch um ein sehr
wenig geklärtes Gebiet handelt, durch das man unmöglich ein noch
dunkleres aufhellen kann. Wenn es möglich ist, daß z. B. siebzig
Personen ohne weiteres plötzlich von einer Kollektivhalluzination
ergriffen werden, so ist überhaupt nicht mehr einzusehen, wo in
der Welt die wissenschaftliche Sicherheit beginnt und wo sie auf-
hört. Inzwischen sind aber die wissenschaftlichen Spiritisten auch
auf diesen Einwand eingegangen und haben ihr Augenmerk be-
sonders auf die optischen und chemischen Hilfsmittel gelenkt, da
z. B. eine photugi aphische Platte weder Halluzinationen noch
sonstige Eindrücke haben kann, die von etwas anderem als der
Materie herrühren.8)
Der ältere Spiritismus baute, wie gesagt, seinen Hauptbeweis
auf die Übereinstimmung der Merkmale, die solche transzendente
Wesenheiten mit den jeweilig Verstorbenen gezeigt haben. Da kein
Wesen im Wellall denkbar ist, das alle Eigenschaften eines anderen
Individuums völlig nachahmen kann, so muß man nach ihm in
einem solchen Falle eben auf die Identität der Persönlichkeiten
schließen und hat so den Beweis in Händen, daß der Mensch nach
dem Tode bewußt weiterlebt und sich gelegentlich auch zu uns
Menschen äußern kann. Es ist indessen bezeichnend, daß schon
der Begründer des wissenschaftlichen Spiritismus in Deutschland,
Aksakow, auf die Unsicherheit dieser Beweisführung aufmerksam
gemacht hat. Es ist zunächst nicht gesagt, daß wir ohne weiteres,
auch wenn wir jene Möglichkeit zugeben, von den Äußerungen
jener Wesen sichere Schlüsse auf das Wie und Wo ihres Weite-
K) Von der Wirklichkeit dieser Erseheiungen haben u. a. auch
hervorragende Mitglieder der englischen und amerikanischen Geistlichkeit
Zeugnis abgelegt, so z. B. Stainton Moses, der sich in späteren
Jahren ganz vom Amte zurückzog und selbst Medium war, und vor
allem der Rektor von Stockton, der Archidiakon Colley, der selbst
zahlreiche Versuche auf diesem Gebiete angestellt hat. Ich besitze
eine ausgezeichnete Wiedergabe einer mediumhtischen Photographie,
wo das Medium der Geistliche H. R Moore in New-York (City. 120
W. 13 the street), bei vollem Licht mit dem materialiserten Phantom
photographiert ist, das sieh in Gestalt eines überlebensgroßen Mädchens
21/, Fuß über dem Boden erhebt und den Geistlichen teilweise
mit ihren laugen, durchsichtigen Gewändern verdeckt! Die
Sitzung ist in den Gesellschaftsräumen des Geistliehen am 18. November
1905 gehalten worden und wurde von über 65 Personen besucht
(Zeitschrift für Spiritismus, 10. Jahrgang, 17. Februar 1906,
Nr. 7, S. 57).
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