http://dl.ub.uni-freiburg.de/diglit/psychische_studien1916/0324
820 Psychische Studien. XLIII. Jahrg. 7. Heft. (Juli 1916.)
oft genug einundderselbe zu verschiedenen Zeiten einen verschiedenen
; gleichwohl ist jeder solche Maßstab von vornherein
genau soviel wert wie jeder andere!" (81). „Alle Weltwahrnehmungen
, alle (sinnlichen) Anschauungen sind daher, wie sie
gleich wirklich sind, auch gleich wahr: gerade so wie die verschiedenen
. von verschiedenen Standpunkten aus aufgenommenen
Ansichten eines und desselben Gegenstandes durchaus gleich berechtigt
und gleich richtig sind" (82 f). „Die Welt ist für jeden
so, wie sie ihm erscheint (188). Darum giebt es auch zuletzt
keinen Unterschied zwischen Schfein und Sein. Beide unterscheiden
sich erst infolge der Differenz von Haus aus durchaus gleichberechtigter
Wirklichkeiten; und es ist nur ein praktischer, kein
theoretischer Gesichtspunkt, der dem Gewöhnlichen den Stempel
des Seins, dem Ungewöhnlichen den des Scheins aufdrückt.
Theoretisch genommen ist die Weltanschauung Don Quichotes genau
so wahr wie die Sancho Pansas. „Richtig" ist kein theoretischer,
sondern nur ein praktischer Begriff. Nur weil die Windmühlenflügel
Don Quichote die Glieder zerschmettern, hat Sancho Pansa
Jecht (188).*)
Hier haben wir die völlige Auflösung aller Wahrheit in bloße
subjektive Meinungen. Und es muß zugegeben werden, daß sie
das folgerichtige Ergebnis jenes naiven Realismus ist,
zu dem uns Petzold zurückführen will. Denn wenn wir in
unserer Sinneswahrnehmung die wirklichen Außendinge „unmittelbar
ergreifen'*, dann sind diese Dinge auch so, wie sie uns
erscheinen. Aber wir haben ja schon gesehen, daß diese
Ansicht zu unlösbaren Widersprüchen führt. Denn daß ein und
derselbe Gegenstand zugleich groß und klein, oder, wie der ins
Wasser getauchte Stab, zugleich gerade und geknickt sei, das
ist ein Widerspruch. Und da Petzold selbst an eine wissenschaftliche
Weltanschauung den Anspruch stellt, daß sie „frei von
Widersprüchen sei (182, 183), so müßte er seinen naiven Realismus
eigentlich aufgeben. Gewiß: „es gibt keine absolute Normalintelligenz
, deren Wahrnehmungen als die absolut richtigen angesehen
werden könnten" (189). Aber das behaupten wir Gegner
des Positivismus ja auch gar nicht. Sondern wir behaupten im
Gegenteil, daß alle sinnliche Wahrnehmung uns immer nur ein
subjektiv gefärbtes Bild der Wirklichkeit gibt, das
auf theoretische Wahrheit überhaupt "keinen Anspruch
machen kann. Und wenn wir ein wissenschaftliches Weltbild anstreben
, dann suchen wir uns gerade „von der besonderen Qualität
unserer Sinnesempfindungen unabhängig zu machen" (189) und
die Welt rein begrifflich zu erfassen (197): wie es auch
*) Warum zerschmettern die Windmühlenflügel dem Don Quichote
die Glieder? Doch nur, weil seine Anschauung der Wirkliche
keit widerspricht, also auch theoretisch „falsch* ist. —
http://dl.ub.uni-freiburg.de/diglit/psychische_studien1916/0324