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37*5 Psychische Studien, XLIII. Jahrgang. 8. Heft (August 1916).
das „Ich" ist ja in Wahrheit nichts weiter als der Gesamtinhalt
oder gar die bloße Form des Bewußtseins, die mit diesem in jedem
Schlaf erlischt. Und der „Stoff" wiederum ist nur der verdinglichte
Allgemeinbegriff eines raumerfüllenden Etwas, der aus
unseren Tast- und Gesichtsempfindungen durch Absehen von allen
sinnlichen Empfindungsqualitäten gewonnen ist. „Ich" und „Stoff4
gehören also beide der subjektiv-idealen Welt des
vergänglichen Einzelbewußtseins an. In dieser aber gibt es kein
unveränderliches, unbedingt beharrendes Sein.
Aber auch in der objektiv-realen Welt des natürlichen
Daseins und Wirkens finden wir kein solches wesenhaftes
oder substantielles Ding. Denn was zunächst als solches gelten
könnte: die Materie, das löst sich vor der tiefer eindringenden
Forschung immer mehr in ein bloßes Gewebe von dynamischen
Relationen oder gesetzmäßigen Kraftäußerungen auf. Das beharrende
, unveränderliche Sein, dessen wir bei unserem Denken
nicht entraten können, kann also nur in der metaphysischen
Sphäre gesucht werden, die als ihr gemeinsamer
Grund und wesenhafter Träger ebenso hinter dem Reiche des
natürlichen Daseins wie hinter dem des seelischen Insichseins oder
Bewußtseins liegt. Und es leuchtet ja auch ohneweiteres ein, daß
die Substanz überhaupt nicht der Welt der Individuation angehören
kann. Denn jedes Einzelding oder Einzelwesen ist ja als
ein bloßer Teil der Welt auch in deren Zusammenhang verflochten
und in seinem jeweiligen Bestände von allen anderen Einzeldingen
abhängig. Es wird in jedem Augenblicke von tausend fremden
Einwirkungen beeinflußt und ist also keine Substanz:
kein selbständiges und unveränderliches Sein. Ein solches beharrendes
und auf sich selbst beruhendes Sein ist ohne Widerspruch
nur als absolutes, nicht als individuelles denkbar. Und
darum ist auch die Substanz in ihrem wahren Sinne nur als
absolute, als das All-Eine Wesen der Welt zu denken.
Nun erhebt freilich Petzold dagegen den Einwand, daß
sich ein solches absolutes Sein eben nicht denken oder irgendwie
begrifflich bestimmen lasse (33, 49, 207). Alles Denken, so betont
er immer wieder, beginne erst mit dem Unterscheiden. Und jeder
Begriff erfordere mindestens einen Gegenbegriff. Wo dieser fehle,
wo die Möglichkeit des Unterscheidens nicht mehr vorhanden sei,
da höre auch das Denken auf (31 f., 49). Und so verhalte sichs
eben mit dem All oder dem Absoluten. Hier fehle jeder Gegensatz
und damit die- Möglichkeit der Unterscheidung. Die Frage
nach dem Wesen des Alls sei also unlogisch gestellt: sie setze
voraus, daß wir ein das Ganze kennnzeichnendes Merkmal im
Gegensatz zu etwas neben und außer ihm stehendem auffinden
könnten;? das Ganze aber stehe nur seinen Teilen gegenüber,
und das Merkmal eines Teiles könne nicht zugleich Merkmal des
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