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406 Psychische Studien. XLUI. Jahrg. 9.-10. Heft. (8ept.-Okt. 1916)
Leichnam in einem Düngerkarren verborgen habe. Der Freund
tat es, traf den Mörder und konnte ihn verurteilen lassen.
Von der Priesterin zu Delphi wird berichtet, daß sie in der
Ekstase in ihr unbekannten Sprachen rede.
Alexander den Großen redete das Orakel des Jupiter Ammon
griechisch an, allein mit fremder Aussprache und Betonung. Den
Barbaren antworteten die Orakel wiederholt in deren Mundart;
Pausanias berichtet dasselbe von den Boten des Mardonius. Im
Tempel des Apollo prophezeite der Seher dem Mys in karischer
Sprache. So berichtet Herodot.
In den ersten Zeiten gab die Pythia ihre Orakel in Versen.
Die erste Pythia, Phoemonoe, soll auch den Hexameter erfunden
haben. Die Verse waren meist nicht sehr kunstvoll. Plutarch erklärte
dies damit, daß Phoebus Apollo nicht ihr Urheber, sondern
nur ihr Anreger war. Später sprach die Pythia nur in Prosa, wodurch
sie viel an Ansehen verlor. Plutarch meinte, sie würde nun
von anderen Geistern beeinflußt, weil sie immer nur in alltäglichen
Angelegenheiten befragt wurde, zu denen die früheren wundervollen
Verse nicht passen.
Die Erfüllung der Voraussagen zu verhindern, erwies sich
stets als unmöglich. Sie erfüllten sich dann erst recht. Man
glaubte daher an ein unabwendbares Schicksal, dem niemand entgehen
könne. Die Stimme des Schicksals waren die Orakel.
Die Berechtigung dieses Glaubens begründet Schopenhauer
durch den Hinweis auf das „zweite Gesicht'* unserer Tage. Auch
jetzt noch erfülle sich alles so, wie es der Seher voraus sah, gleichviel
, wie sehr man sich auch bemühte, die Erfüllung des Vorgesichtes
z* verhindern.
Darum sagt schon Cicero, daß die Weissagungen gar keinen
Wert hätten, denn man könne ihr Eintreffen doch nicht verhindern.
Arpinas berichtet von einem Simonides, daß ihm ein Geist
erschien, dessen Leichnam er fand und ehrenvoll hatte begraben
lassen. Er kündigte ihm an, daß das Schiff untergehen werde,
mit dem er fahren wollte. Simonides fuhr daher nicht mit jenem
Schiffe, das wirklich unterging. Die Voraussage erfüllte sich also,
aber sie rettete dem Simonides das Leben. Damit ist Cicero
widerlegt in seinem zu weit gehenden Urteile.
Vom Orakel des Trophonius in Böotien berichten Pausanias,
Plutarch und andere, daß der Fragende in eine enge Höhle von
einer geheimnisvollen Kraft hinabgezogen wurde, in der er die
Zukunft voraus sah, oder sie ihm von einer Stimme mitgeteilt
wurde. Sodann wutde der Fragende mit dem Kopf nach unten
wieder aus der Höhle herausgezogen, wobei er das Bewußtsein
verlor. Aus dieser Ohnmacht weckten ihn die Priester wieder.
Nach und nach erinnerte er sich dann dessen, was er in der Höhle
schaute oder hörte. Aber auf lange Zeit soll jeder dies Orakel
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