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Dobberkau: Zur Geschichte des Spiritismus
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Es ist wohl zweifelfrei, daß die Propheten und Seher der
Orakel ihre Antworten im somnambulen Zustande verkündeten.
Zu Wahrsagerinnen wählte man sensitive Mädchen, deren
Feinsinnigkeit durch Berauschungsmittel noch verstärkt wurde.
Die Pythien zu Delphi waren im Anfange junge Mädchen.
Zwei verrichteten zusammen den Dienst, eine dritte wurde dazu
vorbereitet. Seit aber eine derselben von Echekrates verführt
wurde, nahm man nur ältere Mädchen aus dem Dorfe und zwar
immer aus dem Kreise der Ungebildeten. Zur Zeit des Verfalls
der Orakel wurden nur einmal im Monate Antworten erteilt, später
nur zweimal im Jahre. Vor jeder Befragung mußten die Pythia
und der Fragende drei Tage fasten. Sodann kaute die Pythia *
Lorbeerblätter und bestieg den Dreifuß, der über einer Erdspalte
stand, ai;s der Dämpfe empor stiegen, die die Pythia in Ekstase
versetzten. In ihr verkündete sie mit hohler Stimme ihre Antworten
, die man göttlicher Inspiration zuschrieb.
Jenen Erddämpfen schrieb man den Ursprung des Orakels zu.
Ein Hirte, namens Koreta, soll sie zuerst entdeckt haben. Seine
Ziegen wurden seltsam erregt, wenn sie sich jener Erdspalte
näherten. Als er selbst es tat, verfiel er in Ekstase und erhielt
prophetische Gesichte. Anfangs lachte man über sie, wenn er von
ihnen erzählte, doch sie erfüllten sich und alle ergriff ehrfurchtsvolles
Staunen. So erzählt Plutarch, Diodor und Pausanias.
Pindar sagt, daß von den Erddämpfen manchmal der ganze
Tempel erfüllt wurde, so stark strömten sie aus.
Plutarch betont, daß an* das Ausströmen von Erddämpfen
oder Quellen die Orakel gebunden waren. Wo sie erschienen,
begründeten sich Orakel, wenn sie versiegten, gingen auch die
Orakel ein.
Er erzählt, daß eine der Pythien von den Erddämpfen derartig
aufgeregt wurde, daß sie wahnsinnig schreiend aus dem
Tempel stürzte und sich auf die Erde warf. Alles floh, auch der
Prophet Nikander. Man kehrte später zurück und trug die betäubte
Pythia fort. Allein sie lebte nur noch wenige Tage.
Auch heute noch versetzen sich Fakire durch Einatmen von
Dämpfen in Ekstase.
Nach dem Erwachen aus ihrer Ekstase wußten die Pythien
nichts von dem, was sie verkündet hatten. Diese Erinnerungs-
losigkeit haben sie mit unseren Somnambulen gemein.
Die Orakel von Kolophon, Pergamos, Dodona und Epidaurus
waren an Quellen von berauschender Wirkung gebunden.
Nach Tacitus trank der Wahrsager des clarischen Apollo
aus einem Grottenquell und beantwortete sodann in Versen Fragen,
die nur in Gedanken gestellt waren. Man nannte ihm nur die
Zahl und Namen der Orakelbefrager. Dieser Wahrsager war in
gewöhnlichem Zustande ziemlich unwissend.
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