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Grävell: Besessenheit.
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Besessenheit.
Von Dr. Grävell (Lausanne).*)
II.
Jede Krankheit ist im letzten Grunde notwendigerweise
Geisteskrankheit. Denn wenn der Geist das ursprüngliche und
höhere Prinzip ist, wie man doch logischerweise annehmen muß,
so ist klar, daß der Körper nur eine Funktionserscheinung des
Geistes sein kann. Er ist also so wie der Geist ist und umgekehrt.
Dem steht scheinbar entgegen, daß ein edler Geist oft in
einem siechen Körper zu stecken scheint. Allein bei näherer Betrachtung
findet man, daß dies nicht ganz zutrifft
Wir wollen uns zunächst einmal klar zu werden suchen, was
für ein Unterschied zwischen Geist, Seele und Ich ist! Denn
diese Begriffe werden beständig verwechselt. Man kann es sich
etwa so vorstellen, daß die Seele gewissermaßen eine Kugel ist
und das Ich der Mittelpunkt. Um das Ich herum befindet sich
zunächst alles Geistige, was dem Gebrauche des Ichs, d. h. seinen
Willensrichtungen nahe steht, es entspricht also etwa dem, was
man philosophisch „den empirischen Charakter" nennen könnte
oder das Bewußte. Entfernter davon, also der Oberfläche der
Kugel näher, ist das mehr Unbewußte, das aus alten Zeiten
stammt und wenig oder nie gebraucht wird.
Denken wir uns, daß der Mensch früher schon einmal gelebt
hat, so ist einleuchtend, cLfi es viele dunkle Partien in seinem
Innern gibt, die vielleicht nie beleuchtet werden, die gewissermaßen
schlummern, aber doch auf einmal ans helle Tageslicht gebracht
werden können, wenn die Umstände es erfordern.
So ist z. B. der Krieg ein solches Ereignis, das manchen
Menschen wie ein wildes Tier erscheinen läßt, und jeder kann
selbst an sich bemerken, daß er manchmal ganz ungewohnte
wilde Instinkte in sich spürt, die ihn auf die Stufe eines Naturmenschen
zurückschleudern. Das ist das angesammelte Unbewußte,
das als „Karma" dient d. h. dem Individuum sein Schicksal macht.
Das Ich schwebt nun zwischen allen diesen Einflüssen wie
nach der Bibel Gott über den Wassern der Tiefe. Es wird von
allen Seiten beeinflußt und kann auch in sich selbst d. h. aus dem
Überbewußten schöpfen, insofern als das Ich göttlicher Natur ist
und aus sich herausgehen muß, wie die Mystiker sagen, d. h. aus
allem Unbewußten und Bewußten, um ins Grenzen- und Wesenlose
zu kommen, nämlich in die Region, wo das Göttliche thront,
das durch die Welt der Erscheinungen verdunkelt wird. Die Welt
ist Schein, der Körper ist Schein und die Materie Schein. [Anm.
Man kann einen Unterschied zwischen Geist und Seele insofern
*) Vergl. Nov.-Dez., S. 604 ff. ^
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