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420 Psychische Studien. XLI1I. Jahrg. 9.40. Heft. (Sept.-Okt. 1916)
IL Abteilung.
Theoretisches und Kritisches.
Das Jenseits und die christliche Hoffnung;.
Von Konrad Falkeisen, evang. Pfarrer.
So wenig als der Durchschnitts-Mensch, weiß auch der Christ
etwas vom 'Dasein im Jenseits, trotzdem der Hauptteil seines
Glaubens und seiner Hoffnungen nicht in irdischen, sichtbaren,
sondern in überirdischen, unsichtbaren Güterr. besteht, also im
Grunde genommen schon „jenseits** liegt. Es werden nun freilich
viele diesen Behauptungen widersprechen und sagen, sie wüßten
ja doch genug über den „Himmel**, da ja die Seligkeit des Himmels
der eigentliche Inhalt der christlichen Hoffnungen sei. Es hat
sich da ein ganz bestimmter und ausgeprägter Vorstellungskreis
herausgebildet, der in verschiedenen bekannten Liedern zum Ausdruck
kommt. Da ist die Rede von dem „neuen Jerusalem**, der
„Stadt Gottes mit den goldenen Gassen und den Perlen-Toren**;
im Himmel, da werden sich die Gläubigen in einer unbeschreiblichen
Herrlichkeit befinden; da ist das „Paradies *, da werden sie
schauen, was sie hier geglaubt haben; da sind dann alle Rätsel
gelöst, da werden sie bei Jesus sein, usw. Wir stellen die Frage:
Woher wissen wir denn, daß das alles wahr ist, was da so fröhlich
behauptet und gesungen wird?
Von der Seite der Buchstaben-Gläubigen wird man diese
Frage mit einiger Entrüstung ablehnen und darauf hinweisen, daß
die erwähnten Vorstellungen der jenseitigen Welt ganz aus der
Bibel geschöpft seien. Diese Behauptung erscheint auf den ersten
Blick richtig. Sieht man jedoch genauer zu, so zeigt es sich, daß
wir hier eine der vielen Ungenauigkeiten und Oberflächlichkeiten
vor uns haben, die mit unglaublicher Gewissenlosigkeit von einer
Generation zur andern fortgepflanzt werden und die viel dazu beigetragen
, daß die christliche Hoffnung überhaupt von vielen als
etwas Abgeschmacktes angesehen wird.
Die erwähnten Schilderungen stammen nämlich alle aus dem
letzten Buche der Bibel, aus der Offenbarung Johannis, die bekanntlich
nirgends Wirklichkeit geben will, sondern in lauter
Bildern und symbolisch gehaltenen Schilderungen sich ergeht, über
deren Deutung man sich noch lange nicht geeinigt hat') Wer den
*) Der unbefangene Bibelforscher im Sinne von Ferd. Christian
Baur's „Tübinger historischer Schule* erkennt, daß die Apokalypse
lediglich die sehr phantastischen Vorstellungen wiedergibt, die sich
die ersten Christen in den vom Apostel Paulos gegründeten Gemeinden
über die Parusie, d. h. das Wiedererscheinen des Messias
zum Weltgericht machten, das Jesus in seinen eschatologischen
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