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422 Psychische Studien. XLIII. Jahrg. 9.-10. Heft. (Sept.-Qkt. 1916)
sich deshalb über das Jenseits aus, weil wir nichts darüber wissen
sollen und es sei uns darum verboten, Nachforschungen darüber
anzustellen. Solche Schlußfolgerungen sind denn schon in der
Tat aus dem Schweigen der Bibel gezogen worden, aber gewiß
mit Unrecht. Denn mit demselben Rechte ließe sich der Grundsatz
aufstellen, wir dürften überhaupt keine Fragen stellen, die in
den biblischen Büchern noch nicht berührt werden, die sich uns
aber heute aufdrängen, weil wir unter ganz anderen Verhältnissen
leben.
Nach dem Gesagten ist es nun doppelt auffallend, daß in gewissen
christlichen Kreisen trotz allem die Beschäftigung mit den
Zuständen des Jenseits einen ziemlich breiten Raum einnimmt;
und ebenso auffallend ist es, daß trotz der Ausbreitung der rationalistischen
Denkweise in weiten Bevölkerungsschichten der Glaube
an die Fortexistenz der Seele sich lebendig erhalten hat und man
deshalb noch an Erscheinungen von Verstorbenen glaubt. Legt
dies nicht die Vermutung nahe, daß es sich bei diesem Glauben
eben um einen natürlichen und darum unverwüstlichen Zug des
Menschenherzens handelt, der durchaus nicht als etwas Ungesundes
anzusehen ist und nichts Krankhaftes an sich haben muß? Ist
dieser Zug des Menschenherzens nicht vielleicht ein durchaus notwendiger
und berechtigter?
„Gott hätte diese Welt nicht schlimmer schädigen können,
als wenn er die Türen hätte offen stehen lassen nach anderen
Welten hin. Die sind nun geschlossen!" so steht irgendwo in
einer Predigt zu lesen. Da ist an das Schweigen des „Wortes
Gottes*' gedacht, das soeben festgestellt wurde, und dieser Ausspruch
ist eine daraus gezogene Schlußfolgerung. Der, der da
so redet, glaubt sich von allen abergläubischen Vorstellungen befreit
, wie kommt er nun zu einer so abergläubischen Behauptung?
Wie kann man denn behaupten, daß „Gott** uns etwas verschlossen
habe? Wollen wir vor irgend einem Gebiete halt machen, nur
weil wir auf Schwierigkeiten stoßen und das weitere Vordringen
durch eine Schranke verrammelt scheint? Wenige Jahrzehnte
zurück, da galt es noch schier als ein Glaubenssatz, daß dem
Menschen das Luftmeer verschlossen sei. Und wer etwa anders
dachte und Versuche machte, auch die Luft zu erobern, der wurde
als ein Narr betrachtet. Und heute haben \yir schon ganze Luftgeschwader
, die im gegenwärtigen Kriege eine große Rolle
spielen!
Daß im Neuen Testament nicht mehr vom jenseitigen
Leben die Rede ist, muß uns allerdings auffallen, denn man sollte
doch meinen, daß durch die Erscheinungen des Auferstandenen die
Aufmerksamkeit nachdrücklich auf das Jenseits hätte hingelenkt
werden sollen. Aber davon ist gar nichts zu bemerken, in
unserem Sinne wenigstens. Der Apostel Paulus redet freilich
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