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424 Psychische Studien. XLUI. Jahrg. 9.-10. Heft. (Sept.-Okt. 1916)
denn da Schlimmes entstehen? — Wir sehen uns doch alle auf
einer Wanderung begriffen, auf einer Wanderung in ein unbekanntes
Land und nach einem unbekannten Ziele. Die übergroße
Mehrzahl unserer Mitwanderer bemüht sich nun geflissentlich an
dieses ferne, unbekannte Ziel möglichst wenig zu denken und es
eilt ihnen auch gar nicht auf dem Wege dahin vorwärts zu gelangen
. Sie verspielen sich unterwegs, richten sich häuslich ein
und leben „in den Tag hinein**. Und erst wenn die Wanderung
mit einem Male ein jähes Ende zu nehmen droht, oder wenn der
Tod sonstwie in ihr Leben eingreift, fällt ihnen das ferne Ziel
wiederum ein, oder es macht ihnen im Geheimem bange, obschon
sie es meist nicht wahr haben wollen. Nur einzelnen kommt der
vernünftige und naheliegende Gedanke, wie jedem, der mit Bedacht
eine Reise unternimmt, daß es für ihn von großem Vorteil
sein dürfte, wenn er von der zukünftigen Heimat, der er entgegen
geht, ein Weniges erfahren könnte. Und nun erkundigt er sich
darnach, sucht sich möglichst zuverlässige Nachrichten zu verschaffen
, damit er sich doch ein ungefähres Bild von den Zuständen
und Einrichtungen des unbekannten Landes machen
könnte! — Trotzdem wird er jedoch seine nächste Aufgabe,
nämlich den Weg, den er zu gehen hat, möglichst glatt und ohne
Aufenthalt zurückzulegen, keineswegs aus dem Auge verlieren; er
wird es nur nie vergessen, daß der Weg nicht die Hauptsache ist,
sondern alles, was er da sieht und erlebt, nur einen vorübergehenden
Wert für ihn hat und nur zu dem Zwecke an ihn
herantritt, um ihn im Gehen zu üben, damit er sein Ziel desto
sicherer erreiche. Nur der Erwerb von Fähigkeiten, die voraussichtlich
notwendig sind, um sich in dem Lande der Zukunft zurechtzufinden
, ist erstrebenswert für ihn. Das ist ihm nur möglich
durch treue Pflichterfüllung im Diesseits. Allein sein Fleiß wird
einen ganz andern Ansporn erhalten, wenn er es klar und bestimmt
vor Augen hat, wie wichtig sein Tun und Lassen in der
Gegenwart ist, und wie ihm nur ein richtiges Verhalten in d i e s e m
Leben über unsäglich qualvolle Leiden, die ihm der noch anhaftende
Erdenstaub im andern Leben bereiten würde, hinweghelfen
werde. Eine genauere Kenntnis vom jenseitigen Leben
würde ihm darum keinerlei Schaden bringen, sie wäre für ihn im
Gegenteil eines der wichtigsten und mächtigsten Erziehungsmittel,
dem kaum ein anderes an die Seite gestellt werden könnte.
Gegen derartige Erwägungen wird nun gewöhnlich ein „Wort
Gottes*' angeführt, das die Wertlosigkeit jenseitiger Mitteilungen
dartun soll. Es stammt aus dem Gleichnis vom reichen Manne
und dem armen Lazarus und lautet: „Sie würden nicht glauben
und ob jemand von den Toten auferstände** und weiter: „Sie
haben Moses und die Propheten, laß sie diejenigen hören!**
(Lukas 16, 30). Dagegen ist zu erwidern, daß die Schablonen-
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