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426 Psychische Studien. XLIII. Jahrg. 9.-10. Heft. (Sept.-Okt. 1916)
müssen sie als berechtigt anerkennen, wie alles Geschehen überhaupt
. Es ereignet sich, es ist eben da, und wir können es nicht
wegwischen, auch wenn es uns noch so unbequem ist. Und es
sind nicht nur diese unbequemen Tatsachen vorhanden,
sondern auch das ebenso unbequeme Verlangen des Menschenherzens
, vom andern Leben etwas zu erfahren, besonders dann,
wenn ihm das Unsichtbare zu Zeiten in furchtbarer und ernster
Weise nahe tritt, das heißt, wenn der Tod eines unserer Lieben
aus unserer Mitte reißt. Es ist nicht leicht zu beschreiben, was in
solchen Zeiten in dem nun vereinsamten Menschenherzen vor sich
geht. Neben dem Schmerze über den Verlust ist es der Eindruck,
als ob es mit etwas Unfaßbarem und Übermächtigem in Berührung
gekommen, es ist ihm zu Mute, als ob es aus der Zeit in die Ewigkeit
entrückt worden sei. Es ist, als ob die Scheidewand zwischen
dem Diesseits und Jenseits etwas gelockert wäre und es nur noch
einer kleinen Anstrengung bedürfte, um sie wegzuschieben, wie
einen Vorhang. Aber nur wenige „Christen** haben eine Ahnung
davon, wie sich dieses „Wegschieben** etwa bewerkstelligen ließe.
Um so mächtiger regt sich aber das Verlangen, von einem Dahingegangenen
noch irgend etwas zu erfahren, einen Gruß zu erhaschen
, auch nur e i n glaubwürdiges Zeichen, daß er noch lebe
und fühle wie früher. Allein, es ist nicht möglich, er ist gegangen
und ein ödes Schweigen antwortet den bangen Fragen. Der
Zurückgebliebene mit seiner vom Schmerz zerrissenen Seele sieht
sich von leidigen Tröstern umgeben, die alle gewohnheitsmäßig
kraftlose und nichtssagende Worte wiederholen, was sie nul
„Trösten** nennen. Alle setzen es als selbstverständlich voraus,
daß das Jenseits verschlossen sei, und sich darum das gequälte
Menschenherz mit dieser Tatsache eben abzufinden habe und sich
dem „allezeit weisen Ratschlüsse Gottes** fügen müsse. Der
Trauernde findet sich zwar endlich mit dem Unvermeidlichen ab,
doch „getröstet** ist er nicht, er empfindet nur die menschliche
Beschränkung und Machtlosigkeit dem Tode gegenüber. Steine
statt Brot, keine Tröstungen sind ihm geboten worden. Ja nicht
einmal Steine waren es, denn Steine sind doch noch etwas wert,
man kann sie sogar zum Bau eines schützenden Obdaches verwenden
. Diese sogenannten Tröstungen sind dagegen gar nichts
wert, sie bieten keinerlei Schutz und Wehr gegen die Angriffe des
Trübsinnes und der Verzweiflung, denn sie* sind nichts als hohle
Seifenblasen. Einzig und allein d a s wäre ein Trost,wenn es doch
einen Zugang zum Unsichtbaren gäbe und die Möglichkeit einer,
wenn auch nur kurzen Verbindung mit dem Dahingegangenen.
Das allein wäre ein Trost für den Trauernden! Alles andere, was
man so unter dem Ausdruck „Sich trösten** zusammenfaßt, ist
eben eine Selbsttäuschung, ein Sich-Abfinden, das — sagen wir —
glücklicherweise in den meisten Fällen zustande kommt, sonst
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