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436 Psychische Stadien. XLIII. Jahrjf. 9.-10. Heft. (Sept.-Okt. 1916)
hohle Eiche werfen. Man bedarf, wenn alles gut geregelt und
jeder freudig seine Pflicht erfüllt, sein Leben normal zu gestalten
weiß, niemals des Krieges und Aufruhrs, niemals der Armeen, des
sogenannten bewaffneten Friedens, der nichtssagenden Aufwallungen
, und vermag es, alle Fragen ruhig und besonnen
zu lösen.
Das System der Selbstsucht hat so unermeßliche sittliche
Verheerurlgen angerichtet, daß auch nicht wenige der besser gearteten
Leute in lautes Lachen und häßlichen Hohn ausbrechen,
wenn das Wort Barmherzigkeit ausgesprochen wird. Nur das
Wort Selbsthilfe können sie hören, solange sie sich noch selbst zu
helfen imstande sind; allein, alles hat seine Grenzen! Heute hilft
man sich selbst und prahlt damit, und morgen zieht man den
Schwanz ein, fühlt sich schwach und elend, und dankt Gott für
die Betätigung der Barmherzigkeit edler Mitwesen. Lautes Lachen
und häßlicher Hohn sind sodann für Lebenszeit verstummt.
Unter Herrschaft des Systems der altruistischen Gegenseitigkeit
werden Liebe und Barmherzigkeit ununterbrochen, bewußt
wie unbewußt geübt, mit der Muttermilch eingesaugt, durch gutes
Beispiel der Eltern, Erzieher, Seelsorger und Staatsverwalter be-
festigt und vermehrt. Auch tut die Tages- und Bücherpresse das
ihrige nach jeder Richtung hin, um das Werk der Veredelung voll
und ganz auszuführen und Glückseligkeit zum Gemeingut aller
Geschöpfe zu machen.
Alle diese erfreulichen und glücklichen Tatsachen im Gemeinwesen
der altruistischen Gegenseitigkeit erfahren an sich keine
Störung durch die Barbareien, welche das teuflische System des
egoistischen tantum-quantum kennzeichnen. Und diese Einflüsse
gehören zu den denkbar schlechtesten, weil sie Tugend ausschließen
und Glückseligkeit nicht aufkommen lassen, Pessimismus, Materialismus
, Irreligion, abnormen Skeptismus und Egoismus in tausend
Gestalten züchten, mit einem Worte: das Menschengeschlecht in
Grund und Boden verderben.
Es ist gar nicht denkbar, daß unter den angedeuteten übelen
Verhältnissen Religion der Religionen sich kräftig entwickeln und
der großen Gesamtheit zu Heil verhelfen könnte; alles, was
Religion ist, muß da taube Nuß bleiben, jede Mühe zu Erwirkung
allgemeiner Wohlfahrt vergeblich sein. Notwendig macht es sich,
aus allen höheren Religionen die Elemente der bösen Ismen gründlich
zu entfernen, damit aus den Religionen das heilige Wesen der
Religion sich gestalte und allgemein heiligend und befruchtend
wirke, die Lebenswerte des Daseins zu Potenzen edler Gesittung
mache.
In der höheren Religion ist Altruismus als Kern enthalten;
verdirbt dieser Kern durch eindringenden Egoismus, so ist es mit
dem Heilswerte der Religion zu Ende, und dieselbe wird Domäne
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