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G. Z.: Okkultismus und Religion
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III. Abteilang.
Tagesneuigkeiten, Notizen u. dergl.
Okkultismus und Religion.
Über dieses hochwichtige Thema erhielten wir von unserem
mehrfach genannten Mitarbeiter, Herrn Dr. G. Z. (Ober-Lehrer
in Hamburg, z. Z. Off.-Aspirant im Osten) nachfolgenden offenen
Brief, dessen Abdruck unseren Lesern willkommen sein dürfte.
(Dat. 20. Juli 16, Feldpoststation 69.) „S. g. H. Prof.! Mit
Interesse las ich die letzten Nummern der „Psych. Studien". Darf
ich Ihnen heute einmal kurz auseinandersetzen, was der Okkultismus
eigentlich für mich bedeutet? Wenn ich es kurz zusammenfassen
soll, so würde ich sagen: Er weist mir den Weg zu einer
neuen Religion, die in der Verschmelzung christlicher Mystik und
moderner Geistesfreiheit besteht. Um zwei typische Vertreter
dieser gegensätzlichen Strömungen zu nennen: ein mittelalterlicher
Mystiker wie Thomas a Kempis und ein kritischer Forscher wie
David Friedrich Strauß bilden jetzt keine unversöhnlichen Gegensätze
mehr. Die Tatsachen des Okkultismus führen den Freidenker
zu einem auf dem Boden verstandesmäßigen Erkennens
ruhenden Jenseitsgtauben. Damit kann er die christliche Mystik
unmöglich mehr völlig ablehnen, sie wird im Gegenteil mehr und
mehr den Abschluß seiner Weltanschauung bilden. Ein Goethe
hatte sie als Weltanschauung des Greisenalters bezeichnet und ihr
in der letzten Szene des zweiten Teils des Faust den gewaltigsten
dichterischen Ausdruck verliehen. Einer solchen, auf freisinniger
Grundlage sich aufbauenden, aber inhaltlich der christlich-mystischen
im Grunde nahe verwandten Weltanschauung braucht der
Fromme nicht mehr mißtrauisch gegenüber zu stehen. Die christliche
Apologetik wird sich mit der Zeit den ganzen Okkultismus
im Kampfe gegen den Materialismus und Agnostizismus
zu nutze machen. Frömmigkeit und Freisinn werden keine absoluten
Gegensätze mehr bilden wie bisher, sondern sich aufs wirksamste
ergänzen und unterstützen. Selbst einzelne Bestandteile
des Katholizismus erscheinen damit in völlig neuem Lieht; freilich
der schroffe Autoritätsglaube der katholischen Kirche wird
als ein dauernd überwundener Standpunkt bezeichnet werden
müssen. Das Wesentliche der neuen Denkweise beruht ja in
ihrer Ablehnung jeden Glaubens auf fremde Autorität hin. An
ein Jenseits, ein Einwirken höherer Kräfte glauben wir nur, weil
wir es verstandesmäßig intuitiv erkennen, nicht weil uns ein
anderer, und wäre es Christus, bezw. sein „Stellvertreter" auf
Erden, durch seine Autorität zu diesem Glauben gebracht hätte.
Noch immer stehen freilich die Freidenker der christlichen
Frömmig eit fremd und ablehnend gegenüber, noch immer fürchten
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