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442 Psychische Studien. XLIIL Jahrg. 9-10.. Heft. (Sept.-Okt. 1916)
sich die Frommen vor der Wissenschaft, noch immer wird die
Kirche an der Entfaltung ihrer innersten Kräfte durch ihre Engherzigkeit
und Einseitigkeit in äußerlichen Dingen gehindert. Ohne
das Dazwischentreten eines völlig neuen Elements, wie es eben
der Okkultismus bietet, ist also an eine Überbrückung der schroffen
Gegensätze nicht zu denken.
Darin scheint mir nun die Hauptbedeutung des Okkultismus
zu liegen, daß er eine solche Synthese dieser Gegensätze ermöglicht.
Seit dem Auftreten des Rationalismus stehen sich Glauben
und Denken als Gegensätze gegenüber, die sich im 19. Jahrhundert
immer schroffer befehdeten, bis etwa „Der alte und der
neue Glaube" von D. Fr. Strauß einen kaum mehr überbrückbaren
Höhepunkt des Kampfes darstellte. Hier die „Glaubenden**,
dort die „Wissenden**, jeder im besten Fall den andern seine
Wege ziehen lassend, so meinte Strauß am Schlüsse seines Werkes
die Frage zusammenfassend kennzeichnen zu müssen. Mit Recht
wurde aber schon damals von anderer Seite darauf hingewiesen,
daß diese schroffe Trennung in Wirklichkeit gar nicht vorhanden
ist. Seit Strauß ist außerdem von verschiedenen Seiten vieles geschehen
, um die Schärfe der Gegensätze zu mildern. Aber von
einer Überbrückung der ungeheueren Kluft zwischen Glauben und
Wissen kann noch lange keine Rede sein. Dies ist eine Aufgabe
der Zukunft, hoffen wir einer nahen Zukunft, an der wir selbst
noch mitarbeiten dürfen, mitumgestalten können. Es handelt sich
um etwas völlig Neues, in dieser Weise bisher höchstens bei wenigen
Einzelnen Verwirklichtes. Goethes umfassende, alles Gute freundlich
anerkennende Denkweise hat bisher zu einer Verschmelzung
des sich fern Gegenüberstehenden wohl **m meisten getan, er, der
zu gleicher Zeit sich aufs Lebhafteste für die eben aufkommende
Entwickelungslehre wie für Kerner's „Seherin von Prevorst** interessierte
. Möge es unserer Zeit vorbehalten sein, seine Gedanken
allmählich zur Entfaltung und Reife zu bringen 1**
Kurze Notizen.
a) f Dr. Wilhelm Ohr, dessen schöne Feldandacht über den
26. Psalm wir im Januarheft er. S. 48 rühmend besprachen, ist (laut
„Leipz. N. N. vom 5. Aug. 16) am 23. Julijn Frankreich als Oberleutnant
der Reserve im noch nicht vollendeten 38. Lebensjahr den
Heldentod fürs Vaterland gestorben. Der Verstorbene, ein geborener
Wiener, war Schüler von Scheffer-Boiehorst (Berlin) und
Gerhard Seeliger (Leipzig). Seit 1903 war er Mitarbeiter der
Württemb. Kommission für Landesgeschichte und Herausgeber der
Württ. Landtagsakten (ältere Reihe), habilitierte sich als solcher
jm Jahre 1904 als Privatdozent in Tübingen, wo er im Verein mit
den Geschichtsprofessoren Dr. Jakob und Dr. Götz (jetzt Leipzig)
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