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462 Psychische Studien. XLIII. Jahrg. IL Heft. (November 1916.)
sieht nicht klarer, sondern vielleicht noch unsicherer und verwirrter
geworden ist. Man kann es daher verstehen, wenn er jetzt
nach einer zusammenfassenden Schlußbetrachtung begierig ist,
welche ihn einer Antwort auf die Frage: Lebt die Seele nach
dem Tode fort? näherbringt. Eine solche Schlußbetrachtung soll
nun versucht werden und sie soll nicht ohne persönliche Note
sein, weil oft Überzeugungen ausgesprochen werden müssen, von
denen der Leser mit Recht wissen möchte, von wem sie kommen.
Denn das muß gleich vorausgeschickt werden: eine mathematisch
sichere Beweisführung ist auf diesem noch so überaus dunkeln
Gebiete nicht möglich, es kann sich da nur um die Begründung
von Überzeugungen handeln, die auf mehr oder weniger großer
Wahrscheinlichkeit beruhen. Versuchen wir also einmal eine
Herausarbeitung der sicheren Gesichtspunkte, der Wahrscheinlichkeiten
und Möglichkeiten, die sich aus dem bis jetzt vorgetragenen
Tatsachenmaterial ergeben.
Ehe wir in diese Arbeit eintreten, wollen wir die Frage aufwerfen
: Was ist denn eigentlich Erkenntnis und wie kommt sie
zustande? Diese Fragen haben sich schon verschiedene Philosophen
gestellt, und man ist sich heute in der Beantwortung dieser
Fragen so ziemlich einig. Allen voran war es Kant, welcher der
heute allgemein anerkannten Antwort die präzise Formulierung
gegeben hat. Gemeinverständlich ausgedrückt lautet seine Antwort
ungefähr so: Das, was der Mensch erkennt, ist nicht die
Wirklichkeit, ist nicht das wahre Wesen der Dinge, es ist vielmehr
nur ihr Schein, der unter Umständen eine ganz andere Form und
Gestalt bekommt, wenn sich unsere Sinne verändern oder wenn
Wesen mit anderen Sinnen oder mit einem anders organisierten
Wahrnehmungsvermögen vor die Wirklichkeit gestellt sind. Diese
Lehre hat in der letzten Zeit ihre mannigfache Bestätigung gefunden
. So weiß man heute allgemein, daß Ton, Licht, Farbe
in Wirklichkeit das nicht sind, als was sie uns erscheinen. Der
Physiker stellt da, wo wir Töne, Lichter und Farben wahrnehmen,
nur verschiedenartige Schwingungen fest. Hätten wir für einzelne
Schwingungsarten nicht die entsprechenden Auffangorgane wie
Ohren und Augen, so wäre uns die Welt still und finster und wir
würden die Wirklichkeit nur tastend, riechend und schmeckend
wahrnehmen. Umgekehrt würde uns die Wirklichkeit wahrscheinlich
viel reicher und mannigfaltiger erscheinen, wenn wir mehr wie
fünf Sinne und eine höher organisierte Verstandesfähigkeit hätten.
Wenn wir nun zu der Überzeugung kommen, daß die Dinge außer
uns in ihrem wahrsten und innersten Wesen nicht das sind, als
was sie uns erscheinen, so folgt daraus mit Notwendigkeit, daß
auch der Mensch im tiefsten Wesen nicht das ist, als was er sich
selbst und den andern erscheint, denn auch der Mensch ist ein
Teil der Wirklichkeit und kann sich und Seinesgleichen nur mit
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