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484 Psychische Studien. XLIII. Jahrg. 1'. Heft. (November 1916.)
mentes beholfen. Aber wenn auch Bescheidenheit und Genügsamkeit
im allgemeinen lobenswerte Tugenden sind, so sind sie hier
keineswegs am Platze, weil es sich um „Sein" oder „Nicht-Sein"
des christlichen Glaubens handelt. Wenn wir nicht imstande sind
dieses Stück unseres Glaubens fest zu begründen, so wird es
erbarmungslos hinweggefegt werden. Und wenn wir keinen Zu-
sammhang mit der übersinnlichen Welt überhaupt finden, so werden
wir an Entkräftung zugrunde gehen ... Ist es nun nicht töricht,
wenn es ans Leben geht, eine erlaubte und rechtmäßige Verteidigung
zu unterlassen — wenn einem die nötigen Waffen dazu
vor die Füße gelegt werden? Sollte man sich nicht ohne Zaudern
bücken und sie ergreifen, auch dann, wenn man sie bisher noch
nicht kannte und sich mit ihrer Handhabung erst noch etwas vertraut
machen muß? Ist es nicht geradezu stumpfsinnig sich
deshalb zu weigern, diese neuen Waffen zu verwenden, weil
man sie in seiner eigenen Rüstkammer bisher nicht vorgefunden,
und nun zu behaupten, es sei eine höhere Fügung, daß man für
den neuen Kampf, in den man — doch offenbar auch durch
höhere Fügung — hineingeführt worden ist, bisher keinerlei Waffen
erhalten habe und im Brustton der tiefsten Überzeugung feierlich
zu erklären, es sei geradezu eine Versündigung, sich der neuen
Verteidigungsmittel zu bedienen? — Genau so töricht benimmt
sich heute die christliche Kirche in dieser lebenswichtigen Frage,
dieselbe Kirche, die doch behauptet die Hüterin göttlicher Wahrheit
und Weisheit zu sein!
Jedes Sich-Versteifen auf einen unbewiesenen oder unbeweisbaren
dogmatischen Lehrsatz, von dem man sich unter keinen
Umständen entfernen will, auch wenn neuere Erfahrungen und Ereignisse
noch so sehr nach einer fortschreitenden Entwicklung
drängen, führt zur Verarmung und endlich zur Verknöcherung,
oder einem Verdorren des geistigen Lebens; aber auch häufig
genug zur Entgleisung vom richtigen Wege, ganz abgesehen
davon, daß das halsstarrige Festhalten einer noch mangelhaften
Erkenntnis dem Fortschritte immer im Wege steht. Von diesem
sich Versteifen auf dogmatische Lehrmeinungen oder Auffassungen
und von der Verknöcherüng wird im Folgenden noch die Rede
sein. Zunächst noch einige Worte über den Kampf, in dem sich
die christlichen Kirchen befinden.
Es ist ja nur zu offenbar, wie die materialistische Denkweise
auch in unsere alten Kirchen siegreich eingedrungen ist, so daß
sie unbestreitbar ihrem Verfalle entgegen gehen, d. h. an Entkräftung
sterben. "Die Massen haben vielerorts den Glauben an
irgend etwas Übersinnliches aufgegeben und auch den gebildeten
Kreisen erscheint das Fortleben der Menschenseele nach dem Abschied
aus diesem Leben als ein Wahn, ebenso wie das Walten
einer göttlichen Gerechtigkeit im Diesseits und Jenseits. Die
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