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490 Psychische Studien. XLIII. Jahrg. IL Heft. (November 1916.)
Hat sich die Seele nun erst in die Unvermeidlichkeit des
Schicksals gefügt, so treten noch gar manche ernste Lebensfragen
an den Menschen heran. Der Krieger denkt unwillkürlich an die
Möglichkeit seines bevorstehenden Todes. Da zieht nun zunächst
ein wehmütiger Hauch durch die Seele, eine Abschiedsstimmung,
der schwere Gedanke, daß man alles, was einem lieb und teuer ist,
Heimat und Angehörige, vielleicht verlassen muß, ohne sie wiedergesehen
zu haben. Man denkt an die Heimat und umschließt
alles, was man liebt, noch einmal mit heißer Inbrunst. Dieses
Gefühl des Abschiednehmens verallgemeinert sich zum schmerzlichen
Bewußtsein, vielleicht für immer Abschied vom Leben
nehmen zu müssen. Der Abschied vom Leben ist jedem Menschen,
der in der Blüte der Jahre steht, ein Ereignis, mit dem man sich
erst nach innerem Kampf abfinden muß. Man hat das Gefühl,
den Zweck des Lebens nicht so erfüllt zu haben, wie es die inneren
Anlagen verlangen. Damit werden die Gedanken des Menschen
von selbst nach oben, zur Gottheit, gelenkt, wie es bei jedem
Menschen ist, der am Rande des Grabes steht. Man hat das heiße
Verlangen, seine Seele' mit der Gottheit in Einklang zu bringen;
man kommt dem göttlichen Geist einen gewaltigen Schritt näher;
die Seele verlangt, sich mit ihrem Gotte eins zu wissen. Der
Mensch lernt in solch ernsten Stunden beten.
Und nun malt man sich die kommenden Ereignisse in irgendeiner
Weise aus. Das hängt nun selbstverständlich von der
äußeren Lage ab. Truppen werden in dunkler Nacht auf Automobilen
zur Schlacht herangezogen, wie es im Januar v. J. bei
Soissons der Fall war. Diese äußere Lage wirkt seelisch auf den
Menschen. Goldner Sommermorgen — beieinander sitzende
Kameraden im warmen Sonnenglanz — Vogelgesang. Im Vorgefühl
des Kommenden steigt ein frischer Männergesang zum
Morgenhimmel: „Morgenrot, Morgenrot". Das ist die letzte
Stimmung in der Kette der durchlaufenden Gefühle: eine gehobene
Stimmung, von Vaterlandsliebe und Begeisterung getragen,
von Siegeszuversicht durchweht. Und wohl dem, den solche
Grundstimmung in die Schlacht begleitet, der kann mit mutiger
Seele und klarem Auge dem Tode entgegengehen.
Und nun im Gefecht selbst. Die Stimmungen, die vor der
Schlacht die Seele durchzogen, sind durchschritten. Die Gedankenwelt
, die den Menschen beherrschte, ist abgetan. Die ersten
Kugeln pfeifen ... Im ersten Augenblicke zuckt man wohl
ängstlich zusammen — Kanonengeber!! Doch allmählich weicht
dieses Fieber einer seltsamen seelischen Ruhe. Selbst getroffen zu
werden, daran denkt man nicht, trotzdem man Kameraden fallen
sieht. Man rennt vorwärts, heran an den Feind, immer vorwärts!
Gefühls- und Gedankenwelt, das ganze Innenleben scheint in
diesem Augenblick ausgeschaltet zu sein.
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