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Reichel: Maeterlincks neueste Theorie der Unsterblichkeit. 493
Ich bedauerte diese arme Frau, sagt Maeterlinck, und da sie
nicht weinte und ganz vergnügt war, dachten die Leute, sie sei
irrsinnig geworden.
(Unsterblichkeit nur eine Erinnerung). Es ist dies eine wundervolle
Erzählung, wie der Stachel des Todes vernichtet war und
die Trauer sich in die Freude der Wiedervereinigung verwandelte
in einem Falle, für den Maeterlinck selbst bürgt. Und was, denken
Sie nun, ist seine Erklärung für diese beseligende Tatsache? Daß
Unsterblichkeit nur eine Erinnerung sei! Daß dieser Sohn nicht
lebte als Geist, wie seine Mutter annahm! Daß ihre Freude über
diese herzliche Verbindung nur ein exzentrischer Einfall mütterlicher
Phantasie sei! Daß alles, was ihn überlebte, ihre eigene
Rtickerinnerung sei! O, Herr Maeterlinck, was für eine leere Schale
bieten Sie da als Tröster der Philosophie dar! Und doch hat die
Lehre, die Sie damit zu ersetzen versuchen, eine so gute tatsächliche
Begründung!
Wissen wir, was das ist, was stirbt, wenn wir sterben — so
fragt er — oder, wenn irgend etwas stirbt? Was auch unser
religiöser Glauben sein mag, da ist auf jeden Fall ein Platz vorhanden
, wo Sie nicht sterben können Das ist der Platz in uns
selbst, und, wenn diese unglückliche Mutter über die Wahrheit
hinaus ging, so war sie doch näher an ihr, als jene Verzweifelten,
welche die traurige Gewißheit nähren, daß nichts von denen überlebt
, die sie lieben. Sie fühlte zu lebhaft, was wir nicht lebhaft
genug fühlen. Sie erinnerte sich zu viel, und wir wissen nicht
uns zu erinnern. Zwischen diesen beiden Irrtümern ist Raum für
eine große Wahrheit; und wenn wir zu wählen haben, der ihrige
ist der Irrtum, an den wir uns anlehnen sollten. [? — Red.]
Lassen sie uns durch den Verstand lernen, was eine weise Verrücktheit
[ein schöner Wahn] ihr schenkte." Keine Toten mehr,
wenn Sie sich ihrer erinnern!
Eine weise Verrücktheit! Was für eine seltsame Zusammenstellung
von unverei nbaren Ideen! Maeterlinck suggeriert einer gesunden
Welt, der Verrücktheit jener Mutter nachzueifern! Wir sollen
die insLeben zurückrufen, die wir bedauern, und nicht voll Furcht
vor ihnen sein, und sie lieben — in dem heiligen, obschon unsichern
dunklen Gebiet unseres Gedächtnisses! Wenn wir sie vergessen,
dann sterben sie! Unser lebendes Gedächtnis ist alles, was von
ihnen übrig bleibt! Sie sterben nicht in dem Augenblick, wenn sie
in das Grab sinken, sondern allmählich, wenn sie in Vergessenheit
geraten! Da ist kein Unterschied zwischen Lebenden und
Toten: wenn wir nur wüßten, wie uns ihrer zu erinnern, dann würden
keine Toten mehr sein. So ist Maeterlinck's neues Geheimmittel
für ein unsterbliches Leben: — Kultiviere dein Gedächtnis! Und
deine Geliebten werden leben — in deiner eigenen Einbildung!
Doch in ferner Zeit werden sie so tot sein, wie ein Ttirnagel! Es
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