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Literaturbericht. 605
obachtungen bieten einen wertvollen Beitrag zur exakten Tierpsychologie
. Dieser „in seiner Narrheit wurzelnde Weise" richtet
in der eingeschobenen „Pfahldorfgeschichte* seine spezielle Aufmerksamkeit
neben den von ihm systematisch bekämpften Objektstücken
vornehmlich auch auf den Schnupfen, den Katarrh, den
„Pfnüssel*, wie er ihn mit einem Schweizerausdruck benennt, aer im
Zeichen des „Grippo", eines imUrschlamm erzeugten Drachenmolchs,
des furchtbaren Kriegsgottes und Menschenfeindes, verläuft und den
von ihm Befallenen Stumpfsinn, Krankheit und Tod bringt. Die
den Dichter in dieser köstlichen Pfahldorf-Novelle leitende Inspiration
setzt sich aus den vier Elementen der freien Erfindung,
der parodistischen Anwendung moderner Zustände, der historischen
Ueberlief erung und der unter Leitung des hochverdienten Präsidenten
und Gründers der, antiquarischen Gesellschaft" in Zürich, Ferd. Keller,
während des ungewöhnlich kalten Winters 1853/54 vorgenommenen
Ausgrabungen aus der Steinzeit auf dem Seegrund bei Meilen|zusammen.
Verfasserin ist keineswegs blind gegen das Mißverhältnis zwischen
dem grandiosen historischen Apparat und der banalen kleinen Liebesund
Eifersuchtsgeschichte, die in den Mittelpunkt des Interesses
gerückt ist, und deren Held, der Gottesleugner und K etzer „Arthur"
(der Bringer eines neuen Glaubeus, wie Vischels Jugendfreund aus
der „Geniepromotion* der Klosterschule Blaubeuren, Dav. Friedr.
Strauß I) dem scheußlieben Götzen „Grippo" zum Abschluß des jährlich
stattfindenden Festes der „Betuchung" in „Milun" geopfert
werden soll. Den fast opernhaft gezeichneten schemenhaften Personen
fehlen freilich alle individuellen Züge; dem Eetter Arthurs,
dem einfachen flirten , Alpin" wird z. B. eine geistvolle Reflexion
in den Mund gelegt, die uns als anachronistisches Unding erscheint.
Offenbar wollte Vischer durch einen an keine Zeit gebundenen rein
menschlichen Stoff dem historischen Roman den Weg zeigen und
ihn auf die Grenzen des Erreichtbaren hinweisen. Das Grundproblem
sind die Störungen des nach dem Ideal strebenden Menschen durch
die kleinen Plackereien des täglichen Lebens. Dieser hier in den
Mittelpunkt des Romans gestellte Gedanke entspricht genau dem
Standpunkt der Vischerschen Aesthe ik, wonach alle Komik letzten
Endes auf einen Kontrast zwischen Idee und Wirklichkeit, Geist und
Materie beruht. Eine auffallend große Bolle in dem Boman spielen
die Träume, worin sich der Dichter als ein Kind der Romantik zeigt.
In einer Studie aus derselben Zeit „der Traum* (1875, nachgedruckt
in „Altes und Neues* L, S. 212) gesteht der „ungläubige Verfasser",
der Kirchenfeind, den Träumen Ahnungswert zu und beleuchtet ihre
Verwandtschaft mit der Dichtung, insofern beide ihre gemeinsame
Wurzel im „Symbol* („alles Irdische ist nur ein Gleichnis* schließt
ja auch Goethes Faust) haben. Beide beruhen auf „Einfühlung
in den Gegenstand" und Ausdrücken eines Inhalts durch ein Bild
aus anderer Sphäre. Eben deshalb ist auch das Tier dem Altmeister
der Aesthetik ein geistbegabtes Geschöpf, durch dessen gefühlsmäßige
Beobachtung er auch die menschliche Psyche tiefer zu erfassen
surht. Diese Auffassung ist „erlebter Pantheismus"; so runden
sich die einzelnen Anschauungen zu einem harmonischen Ganzen
ab und auch die anscheinende Willkür und Launenhaftigkeit des
Autors wurzelt irgendwo in seiner tiefgründigen, stark von Sendling
beeinflußten Philosophie. Verfasserin sagt daher am Schluß dieses
bedeutsamen Werkes, das von eigenem scharfen Denken und den
Dingen auf den Grund Fühlen zeugt und dessen Wert durch einen
Anhang über Bibliographie von Vischers Leben und Werken,
Korrespondenz, Kritik und Register über die reiche von ihr benutzte
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