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20 Psychische Studien. XIJV. Jahrg. 1. Heft. (Januar '917.)
Als Beispiel eines Selstmordversuches ohne jeden Grund
kann man den Fall einer in glücklichen Verhältnissen lebenden
völlig gesunden Frau anführen, den Griesinger (Therapie 3.
Aufl. S. 262) angibt. „Sie springt beim Nähen plötzlich auf und ruft:
„Ich muß mich ersäufen!", rennt nach dem nahen Wallgraben und
stürzt sich hinein. Sie wurde als tot herausgezogen und war mehrere
Tage ganz apathisch, wußte auch nichts von ihrer Tat. Auf andere
Weise als durch plötzliche Besessenheit kann man diesen Fall kaum
erklären. Alle Versuche der Ärzte solche Vorkommnisse auf natürliche
Weise zu deuten sind vergebens.
Der bekannte Pfarrer Blumhardt in Boll hat viel mit Besessenen
zu tun gehabt und interessante Mitteilungen über sie gemacht
. Ich will einen Fall wiedergeben. „D^r Dämon ließ sich
bei einer Jungfrau bestimmt vernehmen, der sich diesmal nicht als
einen abgeschiedenen Menschengeist, sondern als einen vornehmen
Satansengel ausgab, als das oberste Haupt aller Zauberei. Er behauptete
, daß mit dem, daß er in den Abgrund fahren mußte, der
Zauberei der Todesstoß gegeben wurde, an dem sie allmählich
verbluten mußte. Plötzlich gegen 12 Uhr um Mitternacht dröhnte
aus der Kehle des Mädchens zu mehreren Maien, ja wohl eine
Viertelstunde andauernd, nur ein Schrei der Verzweiflung mit einer
erschütternden Stärke, als müßte das Haus zusammenbrechen.
Grausenerregen Jeres läßt sich nicht denken, und es konnte nicht
fehlen, daß nicht die Hälfte der Bewohner des Ortes, nicht ohne
besonderen Schrecken, Kenntnis von dem Kampfe bekam. Dabei
befiel die Katharina ein so starkes Zittern, daß es war, als wollten
sich alle ihre Glieder von einander abschütteln. Unter Äußerungen von
Angst und Verzweiflung mischte sich in der dämonischen Stimme
ein riesenhafter Trotz, eine Herausforderung an Gott ein Zeichen
zu tun, damit er nicht so gemein wie andere Sünder seine Rolle
niederlegen, sondern gewissermaßen unter Ehren in die Hölle
fahren müsse. Endlich kam der ergreifendste Augenblick. — Um
2 Uhr morgens brüllte der angebliche Satansengel, wobei das
Mädchen den Kopf und Oberleib weit über die Lehne des Stuhls
zurückbog, mit einer Stimme, die man kaum bei einer menschlichen
Kehle für möglich halten wollte, die Worte heraus: „Jesus ist
Sieger! Jesus ist Sieger!" Worte, die * so weit sie ertönten
, auch verständig waren und auf viele Personen einen un-
•
*) Es scheint hier ein Fall vron religiösem Wahnsinn vorzuliegen
. In allen derartigen Fällen entstammen die „finsteren Dämonen11
offenbar nicht einer irgendwo außen gedachten „Hölle* als
Peinigungsort für Verbrecher, sondern der eigenen Brust des geistig
gestörten Unglücklichen, bezw. seinem durch Erziehung und Umgebung
bedingten subjektiven Glauben. Auch die Höllenphantasien
eines Dante oder Breughel erklären sich wohl am einfachsten durch
Inschau einer nicht normalen übermächtigen Vorstellungsweit, wie
sie Dichtern, zumal romanischen, zu eignen pflegt. — Red.
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