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Kaindi: Ueber negativen und positiven Eudämonismus. 25
Erfahrungsgemäß wohnt dem Glück, und in höherem Maße
natürlich der Glückseligkeit, als einer höheren Art von Glück die
Tendenz inne, sich mitzuteilen, zu vervielfältigen. Mit Rücksicht
auf diese Tendenz mag die von der „Botschaft der Vernunft"4)
vertretene Ansicht begründet erscheinen, daß Gott in der Welt
seinen Geist an Stoff und Form bindet, damit dieser sich darin in
eine Menge besonderer Geister zerspalte, in deren jedem sich seine
unendliche Vollkommenheit und Seligkeit in endloser Wiederholung
zu höchster Höhe und vollstem Genüsse spiegelt. Unter der Form
der zur Vollkommenheit fortschreitenden Entwicklung und des zur
Seligkeit sich aufschließenden Bewußtseins besteht die ganze
Schöpfung und jedes Wesen in derselben.
Läßt man das auf dem Wege der Induktion gewonnene
Postulat eines transzendenten Glückseligkeitszustandes des Absoluten
gelten, so wiid man sich veranlaßt sehen, mit Rücksicht
auf die diesem Zustand erfahrungsgemäß eigentümliche Tendenz
nach Mitteilung, Verbieitung, Vermehrung und Vermannig-
faltigung, ihn als das eigentliche Moment zu betrachten, welches
die im Weltraum unausgesetzt tätige Schöpfungskraft inspiriert
und antreibt, immer neue Wesen in unerschöpflichem Formenreich-
tum hervorzubringen, und ihre Befähigung für Glück durch Vergeistigung
ihres Wesens kontinuierlich zu erhöhen. „Denn", sagt
Prentice Mulford sehr richtig, „Spiritualität (Vergeistigung) be-
dingt wachsende und nuancierende Freude am mannigfa'tig
Schönen. Spiritualität bedeutet einfach die Fähigkeit, immer
höhere und subtilere Quellen des Glückes in allen Dingen zu ent-
decken."5)
Eine weitere Erfahrungstatsache ist, daß der Zustand des
Glückes, noch mehr aber jener der Glückseligkeit von einem
anderen Zustand abhängt, der Harmonie, ja daß eigentlich Glück
und Glückseligkeit nichts anderes sind, ab die durch das Empfinden
physischer und geistiger Harmonie erweckten Gefühle.
Darum ist es auch, wie Davis sagt, unmöglich einen Begriff von
Glückseligkeit in der Seele zu wecken, wenn die Seele nicht zu
vollkommener Harmonie gestimmt ist. Die vollkommene Harmonie
aber ist es, die, seiner Ansicht nach, den Endzweck der Naturgesetze
bildet. Die Tendenz der Natur zur Harmonie wird uns
vor allem offenbar im Heilbestreben des erkrankten Organismus,
in der Höherentwicklung der Organismen und in den regelmäßigen
und rhythmischen Bewegungen der Himmelskörper. Auch im
Leben der Tier- und Pflanzenwelt zeigt sich uns diese Tendenz der
4) „Die Botschaft der Vernunft1*, Meiningen, in Kommission
bei L. v. Eye. 1858.
r>) Prentice Mulford, „Der Unfug des Sterbens", Albert Langen,
Verlag Mönchen.
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