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Kaindl: Ueber negativen und positiven Endätnonismus. 27
Habt ihr verscherzt und eingebüßt für immer;
Ihr scheues Herz erschließt sich euch doch nimmer:
Denn wer nicht sie zum Höchsten sich erkoren,
Wer jenseits Götter sucht, hat sie verloren/ —
Um dem Zweifler, der sich noch einen Rest von Empfänglichkeit
bewahrte, den Unterschied zwischen Aktivität und Inaktivität
des harmonisierenden Prinzips recht lebhaft zu veranschaulichen,
mag es passend sein, ihn auf die gewaltigen Kontraste der Eindrücke
, Gefühle und Gedanken zu verweisen, die sich unser bemächtigen
, je nachdem wir uns in der Sphäre der Natur oder Zivilisation
bewegen.
Zu diesem Behufe ziehe man beispielsweise einen Vergleich
zwischen dem ungebundenen Treiben der Schwalben, die an
schönen Sornmerabenden scharenweise jubelnd die Luft durchschwirren
und dem steifen zeremoniösen Gehaben der Menschen
auf einem Hof- oder Staatsbeamten-Ball; zwischen dem Alltagsgespräch
an einem Honoratiorentische und dem melodischen Ge-
zirpe der Grillen an sonnigen Halden; zwischen dem Volksgebet
und dem Summen der Bienen, Hummeln und Käfer im Heidemoor;
zwischen dem Kohlen-, Benzin-, Karbolineum-, Karbol- und Teergestank
der Zivilisationsstätten und dem würzigen Duft der
Blumen, Kräuter, Sträucher und Bäume nach lauem Frühlingsregen
; zwischen den kristallinischen sonnendurchglühten Wolkengebilden
des Hochsommers und dem rußerzeugenden Qualm der
Fabrikschlote; zwischen dem Geknatter der Maschinengewehre
und dem majestätischen Rollen des Donners; zwischen dem Getriller
der Feldlerche, dem Morgen- und Abendgesang der Schwarzamsel
, dem Finkenschlag und einer „Flut von Höflingsgeschwätz";
zwischen einem Waldsteig und einer Straße in einem Fabriksviertel
; zwischen den mit Tauperlen behangenen Marienfäden des
Spätsommers und den Telephonnetzen; zwischen der Natur- und
Kunstform der Obstbäume; zwischen den ins freie Gefild zwangslos
hingestreuten Blumengruppen und den streng regulären Blumen-
beeten der öffentlichen Gärten und Parkanlagen; zwischen einem
von der „Intelligenz" frequentierten Luxuskaffee und einer üppigen
Alpenmatte, worauf die Rinder weiden; zwischen einem Exerzierplatz
und einer Wüste; zwischen einem hoch in den Lüften sich
wiegenden Adler und einem Flugapparat; zwischen einer mit
langen grauen Flechtenbärten behangenen Wettertanne und einer
mit marktschreierischen Anpreisungen beklebten Litf assäule;
zwischen den Tempelruinen von Luksor und Karnak, der Insel
Philae, Gwalior, Balbek usw. und einer neuen protestantischen
Kirche Berlins6) — man ziehe den Vergleich zwischen allen den
6) Die zwischen älterer und neuerer Baukunst bestehenden auffallenden
Konstraste sind auch dem Historiker Johann v. Müller
nicht entgangen, und äußert er sich in seiner Weltgeschichte wie
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