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30 Psychische Studien. XLIV. Jahrg. 1. Heft (Januar 1917.)
auf Absonderung und Isolierung beruht und sich dieser Zweck nur
durch die Bildung und Ausbildung des Selbsterhaltungstriebes erreichen
läßt, so wird man auch über die der harmonisierenden
entgegenwirkende Tendenz nicht länger im Zweifel sein, um so
weniger, wenn man berücksichtigt, welche extreme und bizarre
Formen dieser Naturtrieb im Menschenwesen annehmen kann. Die
extreme Entwicklung der Selbstliebe existiert m allen Graden und
Formen; sie beginnt mit dem Egoismus oder der Selbstsucht und
erreicht ihren Höhenpunkt im Egotheismus oder der Selbstvergötterung
,
Daß individuelle und soziale Harmonie \on einem Gleichgewichtsverhältnisse
zwischen Egoismus und Altruismus abhängt,
ist eine Wahrheit, die nicht oft genug verkündet werden kann; ich
halte es jedoch für angemessener, anstatt mich hier selbst zu
wiederholen, den berühmten Naturforscher H ä c k e 1 hierüber zu
vernehmen, mit dem in diesem Punkte übereinzustimmen mich auf
das Angenehmste überraschte.
Er läßt sich hierüber in seinem Buche „Die Welträtsel"8)
wie folgt verlauten:
„Der Mensch gehört zu den sozialen Wirbeltieren und hat
daher, wie alle sozialen Tiere, -zweierlei verschiedene Pflichten,
erstens gegen sich selbst, und zweitens gegen die Gesellschaft, der
er angehört. Erstere sind Gebote der Selbstliebe (Egoismus),
letztere Gebote der Nächstenliebe (Altruismus). Beide natürliche
Gebote sind gleichberechtigt, gleich natürlich und gleich unentbehrlich
. Will der Mensch in geordneter Gesellschaft existieren
und sich wohl befinden, so muß er nicht nur sein eigenes Glück
anstreben, sondern auch dasjenige der Gemeinschaft, der er angehört
, und der .Nächsten', welche diesen sozialen Verein bilden.
Er muß erkennen, daß ihr Gedeihen sein Gedeihen ist und ihr
Leiden sein Leiden. Dieses soziale Grundgesetz ist so einfach und
so naturnotwendig, daß man schwer begreift, wie demselben
theoretisch widersprochen werden kann; und doch geschieht das
noch heute, wie es seit Jahrtausenden geschehen ist.
Die gleiche Berechtigung dieser beiden Naturtriebe, die moralische
Gleichwertigkeit der Selbstliebe und der Nächstenliebe ist
das wichtigste Fundamental-Prinzip unserer Moral. Das höchste
Ziel aller vernünftigen Sittenlehre ist demnach sehr einfach, die
Herstellung des «naturgemäßen Gleichgewichts zwischen Egoismus
und Altruismus, zwischen Eigenliebe und Nächstenliebe' Das
Goldene Sittengesetz sagt: ,Was du willst, daß dir die Leute tun
sollen, das tue du ihnen auch.* Aus diesem höchsten Gebot des
Christenthums folgt von selbst, daß wir ebenso heilige Pflichten
T) Volksausgabe 201—210. Tausend, Alfred Kröner Verlag in
Leipzig.
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