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Seiling: Zum Fall Steiner.
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gegen uns selbst wie gegen unsere Mitmenschen haben.--
Beide konkurrierende Triebe sind Naturgesetze, die zum Bestehen
der Familie und der Gesellschaft gleich wichtig und gleich notwendig
sind: der Egoismus ermöglicht die Selbsterhaltung des
Individuums, der Altruismus diejenige der Gattung und
opezies. —
Durch diese überaus klare Darlegung der Ursache mensch'
licher Disharmonie wird dem philosophischen System Hartmanns,
sowie überhaupt jedem pessimistischen System, das Fundament
entzogen, auf dem es errichtet worden war. Es ist wahrscheinlich,
daß die Logik der Tatsachen und Gründe nur wenige von der
Falschheit des lebensverneinenden Pessimismus überzeugen werden,
weil sie sich schmeicheln, ihn auf Eingebungen untrüglicher intuitiver
Erkenntnis zurückführen zu können, und weil ihnen das Alter
seiner Lehren, die man als uralte Weisheit preist, als sichere Gewähr
für seine Wahrheit erscheint
(Fortsetzung folgt.)
Zum Fall Steiner.
Von Hof rat Prof. Max Seiling, München.
Die Menschen schlagen lieber der
Wahrheit ins Gesicht, als daß sie
. einen Irrtum eingestehen.
Seneca.
Die von Dr. Rudolf Steiner vertretene theosophische Lehre
— neuerdings Anthroposophie oder Geisteswissenschaft genannt
— ist über der gewöhnlichen Kritik insofern erhaben, als
sie angeblich auf ungewöhnlichem Wege zustande gekommen ist:
durch ein auf seelischer Höherentwicklung beruhendes, mystisches
Schauen und durch den Verkehr mit geistigen, der übersinnlichen
Welt angehörenden Wesenheiten. Man kann die auf solche Weise
gewonnenen Erkenntnisse natürlich ablehnen, jedoch - falls sie
nicht etwa in Widerspruch mit Tatsachen stehen — nicht eigentlich
widerlegen, so wenig wie es einem Blindgeborenen zusteht,
über die Farben zu sprechen. So habe ich es denn im Folgenden
weniger mit der Lehre Steiners, als mit der Persönlichkeit ihres
Urhebers zu tun.
Wenn eine auf so unkontrollierbare Weise entstandene Lehre
Anspruch auf Beachtung erheben will, dann ist es klar, daß der
Vertreter solcher Erkenntnisse den höchsten Ansprüchen auf Vertrauen
muß genügen können, gerade weil er naturgemäß keinen
blinden Glauben verlangen darf. Dieses vollste Vertrauen glaubte
ich dem hervorragenden Gelehrten Steiner namentlich auch deshalb
entgegenbringen zu können, weil mir etwas Ähnliches wie der
Fall Saulus-Paulus vorzuliegen schien. Im Laufe der Jahre hat
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