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32 Psychische Studien. XLIV. Jahrg. 1. Heft. (Januar 1917.)
mich jedoch gar Manches im Verhalten des neuen „Paulus" stutzig
gemacht; doch suchte ich immer wieder, Sache und Person tunlichst
auseinander zu halten.
Einen besonders starken Ruck gab es mir, als im Vorwort zu
der in 2. Auflage erschienen Schrift Steiners „Goethe, dei Vater
einer neuen Aeslhetik" (Berlin 1909) zu lesen war: „Es ist vorgekommen
, daß man Änderungen meiner Anschauungen während
meiner schriftstellerischen Laufbahn gefunden hat. Wo gibt es
ein Recht hierzu, wenn eine mehr als zwanzig Jahre alte Schrift
von mir heute so erscheinen kann, daß auch nicht ein einziger
Satz geändert zu werden braucht?*' Neben der Hauptsache, der
von Steiner behaupteten Unverändertheit seiner Anschauungen,
haben wir es hier mit einem, man muß schon sagen dreisten
Sophisma zu tun; weil die Bearbeitung eines, im Vergleich mit
den großen Weltanschauungsfragen ganz nebensächlichen Themas
unverändert bleiben konnte, soll man glauben, daß der Verfasser
seine Anschauungen in keiner Beziehung geändert hat! Die
Dreistigkeit dieses Sophismas habe ich mir daraus erklärt, daß die
kleinen, in dem von Frau Steiner geleiteten Verlag erschienenen
Heftchen, zu denen die in Rede stehende Schrift gehört, fast nur
von den allermeist völlig kritiklosen und automatischen Anhängern
gelesen werden. Die wenigen Denkenden, sowie etwaige außen
stehende Leser glaubt Steiner damit beruhigen zu binnen, daß er
im weiteren Verlauf jenes Vorwortes sagt: „Was damals vor
zwanzig Jahren hinter meiner Ideenwelt stand, ist seit jener Zeit
von mir nach den verschiedensten Richtungen ausgearbeitet
worden; das ist die vorliegende Tatsache, nicht eine Änderung
der Weltanschauung."
Einen noch stärkeren, mein Schweigen jetzt brechenden Ruck
empfand ich, als ich die Behauptung von der Unverändertheit der
Anschauungen in der Schrift „Die Aufgabe der Geisteswissenschaft
'* (nach einem 1916 gehaltenen Vortrag, erschienen im
Philos.-Anthropos. Verlag, Berlin, Motzstr. 17) in geradezu herausfordernder
Weise also wiederholt fand: „Wer meine Schriften
und Vorträge verfolgt hat, kann das alles (daß es sich nur um
Entwicklung und Ausbau handelt) durch dieselben selbst
finden; und ich würde dies nicht besonders* aussprechen, wenn
nicht immer wieder die Entstellung der Wahrheit sich dadurch
zeigte, daß gesagt wird, ich hätte mit dem, was ich früher zum
Ausdrucke gebracht, gebrochen und wäre eingeschwenkt in die
Anschauungen, wie sie etwa von Blavatzky und Besant in deren
Veröffentlichungen dargestellt werden ... Ich weiß, daß ich
durch diese Ausführungen gewisse, immer wieder gegen mich auftretende
Angriffe nicht aus der Welt schaffen werde, denn diesen
ist es ja in vielen Fällen nicht um Ergründung des wahren Tatbestandes
, sondern um ganz anderes zu tun. Aber, was kann
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